“Wir mussten unser Familienleben verändern, um uns nicht zu verlieren”

Kathrin und Can mit ihren drei Kindern. Ihren Instagram-Namen “Frau Wonnevoll” hat Kathrin gewählt, weil es ihr wichtig ist, ihr Leben voll Wonne zu leben und immer neugierig auf das zu bleiben, was noch kommen kann, offen und voll Vertrauen, dass alles gut sein

Interview von Mirca Elena Heidler

Zu fünft in einer Einzimmerwohnung: Warum Kathrin Şahin mit ihrem Mann Can und den drei Kindern in Frankfurt in einer Tiny Flat lebt.

Im Dezember 2020, mitten in der Corona-Pandemie, haben Kathrin Şahin und ihr Mann Can aus Frankfurt entschieden, mit ihren drei kleinen Kindern von einer Dreizimmerwohnung mit 76 Quadratmetern in eine Einzimmerwohnung mit 40 Quadratmetern zu ziehen. Seither berichten sie von ihrem Leben in der Tiny Flat auf Instagram (Öffnet in neuem Fenster) und bekommen dort viel Aufmerksamkeit.

Verkleinern, statt vergrößern? Wie es zu dieser Entscheidung kam und wie es sich auf so engem Raum mit fünf großen und kleinen Leuten lebt das erfährst Du hier!

Liebe Kathrin, im April 2021 bist du mit deinem Mann und euren drei Kindern aus einer Dreizimmerwohnung in eine Einzimmerwohnung mit 40 Quadratmetern umgezogen. Eure Kinder schlafen auf einer großen Hochebene im Flur, ihr Eltern baut nachts die Couch in eurem Wohnzimmer zum Bett um. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?

Kathrin Şahin: Wir hatten damals zu viel von allem. Wir hatten zu viel Zeug, zu viele Aufgaben, zu viel Druck, zu viele Rechnungen. Wir wussten nicht mehr, wo wir anfangen sollten mit allem, es gab viele Konflikte und alles hat sich unglaublich schwer angefühlt. So hatten wir uns unser Familienleben nicht vorgestellt und es war klar: Wenn wir uns in all dem nicht verlieren wollen, muss etwas passieren, das eine richtige Veränderung in unser Leben bringt. Dann haben wir beschlossen: Wir lösen uns von all diesem Ballast, der sich so schwer und anstrengend anfühlt. Wir haben die Gegenstände, die wir besitzen, reduziert, aber auch unsere Finanzen neu strukturiert und eine ganz neue Grundstruktur in unser Leben gebracht. Diesen äußeren Prozessen folgten innere Aufräumprozesse. Wir konnten uns endlich wieder darauf besinnen, was uns im Leben wirklich wichtig ist. Aber das konnte erst so richtig losgehen, als unser Leben im Außen wieder überschaubar war und wir uns nicht mehr so überfordert gefühlt haben von unserem Alltag.

Wie hat sich dann der Umzug von der großen in die kleine Wohnung ergeben?

Als 2018 unser Sohn geboren wurde, ergab sich in unserem Haus die Möglichkeit, die Einzimmerwohnung zusätzlich zu unserer großen Wohnung anzumieten. Das haben wir damals gemacht, weil zu der Einzimmerwohnung ein kleiner Garten gehört und wir dachten, dass wir diese Wohnung gut als Büro und als Gästeraum für die Familie nutzen können. Damals waren wir auch noch in diesen Gedanken gefangen, dass je größer die Familie wird, man umso mehr Platz braucht. Das hat sich für uns als falsch herausgestellt. Die Wohnung war nur eine zusätzliche Belastung. Es war also klar: Eine Wohnung wird gehen müssen und letztendlich haben wir uns für die kleine Wohnung entschieden.

Wie alt waren die Kinder bei eurem Umzug und habt ihr sie in die Entscheidung für die kleinere Wohnung mit einbezogen?

Unsere Kinder waren etwas über fünf, sieben und zwei Jahre alt. Zuerst haben mein Mann und ich über diese Entscheidung gesprochen. Als wir uns sicher waren, haben wir unseren Kindern von der Idee erzählt. Wir haben sie gefragt, wie sie darüber denken, was ihre Ängste sind. Unser Jüngster hat damals natürlich noch nicht so viel dazu gesagt, aber unsere Töchter hatten viele Fragen. Der Umzug an sich machte ihnen keine Angst, sie konnten sich gut vorstellen, so zu wohnen, sie hatten eher Angst davor, sich von all ihren Spielsachen trennen zu müssen. Das konnten wir sehr gut auffangen, weil wir klar gesagt haben: Es muss nichts gehen, das ihr unbedingt behalten wollt. Natürlich gab es trotzdem Diskussionen, weil für Kinder ja selbst ein kleines Plastikspielzeug unheimlich wichtig sein kann, aber insgesamt war es auch für sie ein schöner Prozess, in sich hinein zu spüren und zu merken, was ihnen wirklich wichtig ist. Tatsächlich haben wir von den Kindern auch am meisten mitgenommen, mein Mann und ich besitzen nur noch sehr wenig von all dem typischen Krimskrams, der sich sonst so ansammelt.

Ihr lebt jetzt seit zwei Jahren in eurer Tiny Flat. Wie empfindet ihr das Leben zu fünft in einer Einzimmerwohnung – fehlt euch etwas oder fühlt ihr euch eher bereichert?

Tatsächlich fehlt uns nur der Backofen, für den war kein Platz mehr in der Küche. Aber sonst haben wir ganz viel dazugewonnen. Wir haben Ordnung in unser Leben gebracht, alles hat Struktur, unsere Finanzen sehen ganz anders aus als vor zwei Jahren und dadurch können wir uns viele schöne Reisen als Familie leisten. Das ist toll und das genießen wir alle sehr. Von jeder Reise kommen wir mit einem Rucksack voller schöner Erinnerungen nach Hause. Und wenn wir in den Urlaub fahren, sind wir meistens in Ferienwohnungen mit Backofen und dann gibt es zwei Wochen lang ganz viel Überbackenes, das ist jedes Mal eine große Freude. Oft wird gefragt, ob uns Privatsphäre fehlt: Dem ist nicht so. Wenn wir Privatsphäre brauchen, ziehen wir uns gerne auf die Hochebene zurück. Meist sind wir aber alle zusammen im Wohnzimmer oder im Garten. Unsere Kinder spielen immer am liebsten dort, wo wir Eltern sind.

Ihr nutzt euren Wohnraum sehr geschickt mit vielen kleinen Tricks. Erzähl doch mal, was ihr euch alles habt einfallen lassen, um den Wohnraum optimal zu gestalten.

Das Gute an unserer Altbauwohnung ist, dass sie sehr hohe Decken hat, die wir gut nutzen können. Wir haben beispielsweise einen tollen Wäschetrockner, den wir mit einem Flaschenzug unter die Decke ziehen können. Über dem Badezimmer gibt es eine kleine Kammer, in der wir unsere Akten aufbewahren und Kleidungsstücke, die gerade nicht in Gebrauch sind. In der Küche haben wir viele Regale in der Höhe anbringen können und dadurch viel Stauraum gewonnen. Als Esstisch haben wir einen ausziehbaren Tisch, den wir sonst zusammenschieben und dann als Schreibtisch nutzen können. Das Highlight ist aber natürlich die Hochebene für die Kinder, auf der sie sich sehr wohlfühlen.

Hat bei eurer Entscheidung für weniger Wohnraum und Konsum auch der Gedanke an die Klimakrise eine Rolle gespielt?

Ja, Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema für uns. Ich habe lange für ein nachhaltiges Modeunternehmen gearbeitet und dadurch viel mit diesen Themen zu tun gehabt. Im Herbst 2020 habe ich unseren ökologischen Fußabdruck berechnet und bin fast rückwärts vom Stuhl gefallen, als ich das Ergebnis gesehen habe. Ich dachte nur: Das muss besser gehen. Schon in unserer großen Wohnung haben wir viel umgestellt und beispielsweise im Badezimmer Plastik durch nachhaltige Alternativen wie etwa Zahnpasta aus dem Glas statt aus der Tube und feste Seifenstücke statt Flüssigseife ersetzt. Irgendwann haben wir auch unser Auto verkauft und inzwischen haben wir einen deutlich besseren Fußabdruck. Mit dem Umzug haben wir auch viele Kleidungsstücke reduziert und ich habe damit begonnen, mir eine Capsule Wardrobe zusammenzustellen. Derzeit besitze ich etwa 30 Kleidungsstücke, die sich alle miteinander kombinieren lassen. Bei meinen seltenen Neukäufen achte ich gerne darauf, ob die Kleidung nachhaltig produziert wird.

Ihr habt euch dazu entschieden, euer Leben zu fünft in einer Tiny Flat auf Instagram zu zeigen. Warum macht ihr das und wie sind dort die Reaktionen?

Wir machen das, weil wir gemerkt haben, dass wir mit den Gefühlen, die wir vor unserem Umzug hatten, nicht allein sind. Vielen Familien geht es so, dass alles zu viel ist und kaum Luft zum Atmen bleibt. Dazu kommt der gesellschaftliche Druck durch Aussagen wie “Jedes Kind braucht sein eigenes Zimmer” oder “Man braucht viel Spielzeug, um die Kinder optimal zu fördern”. Wir wollen zeigen: Man braucht all diese Dinge nicht, um glücklich zu sein. Man muss sich diesen ständigen Anforderungen nach Mehr nicht unterwerfen. Und viele Menschen aus meiner Community melden mir zurück, dass wir ihnen mit unserer Geschichte ganz viel von diesem Druck genommen haben. Besonders viele Frauen schreiben mir, dass die Pflege von großem Wohnraum sie sehr belastet und sie nach unserem Beispiel auf der Suche nach einem kleineren Wohnraum sind. Solches Feedback macht mich sehr glücklich!

Ihr sagt ganz klar, dass ihr davon ausgeht, dass eure Zeit in der Einzimmerwohnung begrenzt ist und ihr umziehen werdet, wenn eure Kinder sich mehr Raum wünschen. Habt ihr schon Ideen dazu, wie und wo ihr dann leben wollt?

Ja, wir werden uns nach einer neuen Wohnmöglichkeit umsehen, sobald wir als Eltern das Gefühl haben oder unsere Kinder uns sagen, dass sie mehr Raum brauchen. Eine Zeit lang habe ich mir unglaublich viele Gedanken darüber gemacht, was nach dieser Wohnung kommen könnte, weil es mir erstmals sehr schwer gefallen ist, mir vorzustellen, diesen Wohnraum eines Tages wieder aufgeben zu müssen. Mittlerweile sehe ich das anders und ich bin davon überzeugt: Egal was es sein wird, es wird auf jeden Fall etwas Gutes kommen und es wird sich alles fügen.

Ja, wir werden uns nach einer neuen Wohnmöglichkeit umsehen, sobald wir als Eltern das Gefühl haben oder unsere Kinder uns sagen, dass sie mehr Raum brauchen. Eine Zeit lang habe ich mir unglaublich viele Gedanken darüber gemacht, was nach dieser Wohnung kommen könnte, weil es mir erstmals sehr schwer gefallen ist, mir vorzustellen, diesen Wohnraum eines Tages wieder aufgeben zu müssen. Mittlerweile sehe ich das anders und ich bin davon überzeugt: Egal was es sein wird, es wird auf jeden Fall etwas Gutes kommen und es wird sich alles fügen.

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