Ein Text von Sarah Schulze
Der 30. Dezember ist ein doppelter Schicksalstag für Barbara. An diesem Tag hat sie ihre tote Tochter geboren – und erfuhr genau ein Jahr später von ihrem Sohn.
Vor sieben Jahren, da war Barbara 40, war sie zum ersten Mal schwanger. Ein absolutes Wunschkind. Sie und ihr Mann freuten sich riesig; ihr ging es in den ersten Wochen sehr gut – Schwangerschaftsübelkeit und Co. schienen an ihr vorbei gegangen zu sein. Dann – in der 22. Schwangerschaftswoche, erzählt sie – saß sie zur Kontrolluntersuchung bei ihrem Frauenarzt. Eine Kontrolluntersuchung, die ihr Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf stellen würde.
Ihr Arzt stellte eine Auffälligkeit fest, überwies sie direkt weiter an einen Spezialisten, einen Pränataldiagnostiker. Dieser bestätigte, was ihr Arzt zuvor schon vermutet hatte: Ihr ungeborenes Mädchen hatte einen offenen Rücken. Die Ultraschalluntersuchung dauerte lange, knapp eine Stunde, erinnert sich Barbara. Und mit jeder Minute wurde der untersuchende Arzt stiller.
“Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter nicht lebensfähig ist.”
Dann spricht er die Worte, auf die sich Barbara schon eingestellt hatte – und die ihr den Boden unter den Füßen wegzogen: “Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter nicht lebensfähig ist.”
Barbaras Ungeborenes litt an Trisomie 18, eine genetische Erkrankung, bei der das Chromosom 18 (oder Teile davon) dreifach statt zweifach vorhanden ist. Die Entwicklung des Kindes ist bereits im Mutterleib gestört – bei Barbaras Mädchen hat der Gendefekt einen offenen Rücken und andere schwere Fehlbildungen hervorgerufen.
Die Diagnose des Pränataldiagnostikers war eindeutig: “Ich rate Ihnen davon ab, die Schwangerschaft weiter auszuführen.” Denn: Nicht nur war ihre Tochter mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lebensfähig, auch Barbaras Gesundheit stand durch den Gendefekt auf dem Spiel. Dadurch war ihr schnell klar, welche Entscheidung sie fällen musste – was es nur noch schwerer machte. Sie würde die Schwangerschaft nicht weiter ausführen. Barbara ging es schlecht, sehr schlecht. “Der Gedanke war so abschreckend, aber es war eine Entscheidung FÜR mein Kind”, sagt sie mit leise, aber mit fester Stimme.
Da sie bereits in der 22. Woche war, konnte kein Arzt im Umkreis den sogenannten Fetozid (Tötung des Kindes im Mutterleib, Anm. d. Red.) durchführen. Am Ende bekam sie einen Termin in einer über 70 Kilometer entfernten Klinik – vier Wochen später. Diese vier Wochen, sagt Barbara, waren die furchtbarsten ihres Lebens. Noch heute versteht sie nicht, dass eine schwangere Frau, die einen Fetozid durchführen lassen muss, nicht nur weit fahren, sondern auch noch vier kräftezehrende Wochen – in denen ihr Bauch weiter gewachsen ist – auf einen Termin warten muss.
Eine Kellnerin beglückwünschte sie zur Schwangerschaft
Durch ihren Beruf als Erzieherin hatte sie bereits Beschäftigungsverbot – und so zog sie sich immer mehr zurück, wollte nicht raus, mit niemandem sprechen. Nur einmal, da waren sie und ihr Mann essen. Und der Restaurantbesuch hallt bis heute nach. Es passierte genau das, wovor Barbara sich so fürchtete: Die Kellnerin zeigte auf Barbaras runden Bauch und beglückwünschte sie zur Schwangerschaft: “Wann ist es denn so weit?“ fragte sie…
Als sie mit mir über die schlimmen Stunden des Fetozids spricht, strahlt Barbara eine bewundernswerte Ruhe aus. Es ist der 30. Dezember. Sie erinnert sich noch genau daran, dass die Ärztin, ihrem Anschein nach noch in der Ausbildung, die Spritze für den Fetozid mehrfach ansetzen musste, immer wieder von dem leitenden Arzt korrigiert wurde. Eine nervliche Zerreißprobe für Barbara – auch heute hat sie wenig Verständnis für diesen Umgang mit ihr in der schwersten Stunde ihres Lebens. Anschließend brachte sie ihre Tochter auf natürlichem Weg auf die Welt. Sie nannte sie Maria, nach ihrer Oma.
Barbara erzählt, dass sie unter der Geburt und kurz danach durch starke Schmerzmittel körperlich wie betäubt war. Das wollte sie so: “Ich konnte meinen seelischen Schmerzen nicht aushalten – dagegen gibt es keine Schmerzmittel. Dann wollte ich wenigstens den körperlichen Schmerz betäuben.” Die ganze Prozedur ging so schnell von statten, dass sich Barbara von ihrer Tochter nicht einmal verabschieden kann.
“Ich denke mit so viel Liebe an diese letzten Momente zurück. Da bin ich Mutter geworden.”
Als sie am nächsten Tag, am Neujahrstag, zu Hause ankommt, bricht sie zusammen. “Mein Mann tat das einzig Richtige in dieser Situation. Er hat mich ins Auto gesetzt und wir sind gemeinsam wieder in die Klinik gefahren.” Dort angekommen, ermöglichten ihr die Diensthabenden Pfleger:innen das größte Neujahrsgeschenk: Sie durfte sich von ihrer Tochter verabschieden. Eineinhalb Stunden saß sie mit Maria alleine in einem Raum, wog sie in ihren Armen, sang ihr Lieder vor, eine Krankenschwester machte ein Erinnerungsfoto.
So tragisch diese Stunden auch waren, so schön war der Abschied, erzählt Barbara mit ruhiger Stimme. Ich höre über das Telefon, dass sie lächelt – und gleichzeitig weint. “Ich denke mit so viel Liebe an diese letzten Momente zurück. Da bin ich Mutter geworden.”
Der Abschied hat ihr geholfen, die Erfahrungen – gemeinsam mit einer Seelsorgerin – zu verarbeiten. Und genau ein Jahr später, am 30. Dezember, machte sich Marias Bruder auf den Weg zu Barbara und ihrem Mann. Neun Monate später brachte sie den kleinen Theo gesund auf die Welt.
Barbara glaubt, dass die Themen Fetozid, stille Geburt und Sternenkinder vor allem gesellschaftliche Tabuthemen seien: Nicht Betroffenen würde es schwer fallen, mit Betroffenen darüber zu sprechen. Deswegen klärt Barbara in ihrer Heimatgemeinde auf, hält hin und wieder Vorträge über ihre Geschichte – um anderen Menschen Mut zu machen. Sie selbst sei durch ihre Erfahrungen sehr vorsichtig im Umgang mit Schwangeren geworden, hält sich mit Glückwünschen und aufgeregten Fragen zurück. Denn sie weiß, wie viel Schmerz eine gut gemeinte Frage zum Ungeborenen verursachen kann.
Infokasten:
Bei einem Fetozid wird das ungeborene Kind im Mutterleib getötet. Dabei durchsticht die Ärztin oder der Arzt mit einer Nadel die Bauchdecke der Mutter bis zur Bauchhöhle. Anschließend spricht er in das Herz oder die Nabelschnurvene des Kindes eine Kaliumchloridlösung, die zu einem sofortigen Herzstillstand und somit zum Tod des Kindes führt.
Diese Prozedur wird nur in absoluten Ausnahmefällen durchgeführt: Wenn absehbar Ist, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren stark gefährdet, kann das eine medizinische Indikation für einen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche darstellen. Das Gesetz knüpft die medizinische Indikation jedoch an bestimmte, strenge Voraussetzungen.
(Quelle: familienplanung.de/Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)