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Schlagwort: taboo

„Ich bin lesbisch! … oder nicht?“

„Ich bin lesbisch! … oder nicht?“ – Nach ihrem Coming-Out verlässt Pippa ihren Mann und Vater der Tochter – jetzt zweifelt sie sehr, ob sie wirklich auf Frauen steht.

Als ich Chris mit 13 kennenlernte, war es der Anfang einer besten Freundschaft. Ich merkte gar nicht, dass er sich Hals über Kopf in mich verliebte. Über Jahre verschloss ich vor dieser Tatsache meine Augen. Erst als Chris für mich unerreichbar schien, kamen bei mir Gefühle auf. Er war MEIN CHRIS, ich war verliebt. 

Dass aus dieser jungen Liebe beim ersten gemeinsamen Sex ein Baby entsteht, damit hat wohl niemand gerechnet. Ich war 18, mitten im Abi und hielt den positiven Schwangerschaftstest in der Hand. 

Ich war total verzweifelt und dennoch war mir klar: Ich schaffe das! Ich schnappte mir meine Bücher und lernte, was das Zeug hält. Chris war dabei immer an meiner Seite. Das Abi bestand ich mit Auszeichnung. Unsere Tochter Mia war drei Wochen zuvor zur Welt gekommen.

Als Mia 1 Jahr war, fing ich an zu studieren. Ich pendelte von meinem Heimatort mehrmals wöchentlich nach München. Chris und ich jonglierten unseren Alltag zwischen Kindererziehung und unserem Studium, als hätten wir nichts anderes getan. Wir heirateten –  unser Leben konnte nicht besser sein. Dachten wir zumindest.

Der Alltag und dessen Folgen

Auch nach der Hochzeit verflog die Zeit. Doch dann passierte uns das, was so vielen passiert: Der Alltag holte uns ein. 

Mein Job forderte mich nicht ausreichend, die Ehe war irgendwie langweilig. 

„Das kann es doch nicht gewesen sein“, dachte ich. Jeden Tag der selbe Trott. Chris und ich sprachen offen darüber. Bei mir entstand der Wunsch, mich sexuell neu auszuprobieren. Da mir Chris als Mann im Bett immer mehr als genügt hat, war für mich klar: Ich würde es gern wieder mit einer Frau versuchen.

Mann – Frau – Frau: Das Projekt

Chris war dem gegenüber sehr aufgeschlossen. Wir meldeten wir uns auf einer Onlineplattform an und suchten nach einer Partnerin für ein Abenteuer zu dritt. Unsere Suche war jedoch zuerst ohne Erfolg, so verflog der Gedanke nach einiger Zeit. Aber alleine, dass Chris sich dazu bereit erklärte, gab mir die Aufregung, die ich schon so lange vermisst habe.

Vor drei Jahren auf einer Party stand sie da: Ida! Wir kamen ins Gespräch. Ich erzählte von Chris und Mia und recht schnell auch von unserem Vorhaben. Sie schien zuerst perplex und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. An diesem Abend geschah nicht mehr viel, wir tauschten die Nummern aus und ich bereute es, mit der Tür ins Haus gefallen zu sein. Ich dachte, dass ich nie wieder von ihr hören würde.

Doch am nächsten Morgen hatte ich eine Nachricht auf meinem Display: “Hey, Ida hier. Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hast, heute Abend was trinken zu gehen?“ BÄM. Ich erzählte Chris von ihr. Er war mit dem Treffen einverstanden.

Chris und ich vereinbarten zuvor gewisse Regeln. Die Wichtigste: wenn ich alleine eine Frau treffe, passiert nichts, womit er sich unwohl fühlt. Wenn er den Wunsch hat, dass ich nach Hause komme, steige ich ins Auto und fahre. Wenn er sagt, er möchte nicht, dass ich sie zum Abschied küsse, ist auch das ein No-Go! 

Anfangs traf ich mich mit Ida alleine, um eine Vertrauensbasis aufzubauen. Gleichzeitig lasen Chris und ich uns in das Thema „offene Beziehung“ ein und steckten jeden Tag aufs Neue unsere Grenzen ab. Es war eine Zeit, in der ich endlich die Aufregung hatte, nach der ich gesucht habe. Eine Weile trafen wir uns häufiger zu dritt – es passte für uns alle gut. Doch irgendwann war es für Ida nicht mehr tragbar, „nur“ die Dritte zu sein, und so beendeten wir diese Geschichte. Wir meldeten uns wieder auf der uns bereits bekannten Onlineplattform an und so traf ich Marlene.

Eine Frau, in die ich mich von der ersten Nachricht an verguckt habe. Auch das erste Date, welches natürlich mit Chris‘ Genehmigung stattfand, fühlte sich ganz anders an als die Dates zuvor. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch: Ich hatte mich in eine Frau verliebt.

Das Outing – und die Gefühle dazu

Oh Gott. Was mache ich nun? Ich wollte doch nur Spaß, wollte mich ausprobieren, Aufregung verspüren. Mein Ziel war es doch nie, meinen Mann und besten Freund, den Vater meiner Tochter, zu verlassen. Ich wusste zwar stets, dass es ein gefährliches Spiel war. Doch was nun? Die Gefühle für Marlene wurden so stark, dass ich wusste:“Ich bin homo/-bisexuell!“ (Ja, erst zu diesem Zeitpunkt kam mir der Gedanke. Darüber bin ich selbst bis jetzt verwundert.)

Meine Gedanken kreisten von diesem Moment an ununterbrochen um dieses Thema. Für mich war klar, dass ich mich jetzt outen muss – und es auch möchte. 

In welche Schublade stecke ich mich nun? Muss ich das überhaupt? Wie sage ich es Chris? Wie erkläre ich das meinen Eltern? Was wird mein Kind sagen? Wie soll das funktionieren – alleinerziehend, und das zu einem Zeitpunkt, wo ich gerade mit meinem Master begonnen habe. Werden mich die Leute im Dorf auslachen? Wird es Chris verkraften? Zerstöre ich die Beziehung zwischen meinem Kind und ihrem Vater?

Vom ersten Gespräch mit Chris, dass mir unser Alltag zu langweilig wurde bis zu diesem Zeitpunkt waren zwei Jahre vergangen. Zu allererst erzählte ich es meinen Eltern, die nicht wirklich überrascht schienen. Ein paar Tage später hatte ich eine Aussprache mit Chris, es war gleichzeitig unsere Trennung. Das war im vergangenen Oktober.

Er war am Boden zerstört und konnte diese Nachricht schlecht verdauen. Bis heute wechselt unsere Beziehung täglich zwischen einem guten, freundschaftlichen und einem wuterfüllten Verhältnis. 

Unsere Mia, damals 9, verkündeten wir gemeinsam die Trennung. Sie war in jenem Moment sehr gefasst. Im Nachhinein wurde aber deutlich, dass sie die Botschaft doch sehr mitgenommen hat. Ihr Herz wurde schlicht und ergreifend aufgrund der Trennung von Mama und Papa verletzt.

Erst ein paar Monate später erfuhr sie, dass ihre Mama sich in eine Frau verliebt hatte. 

Meine Eltern, meine Geschwister, mein engster Freundeskreis, mein Ex-Partner und mein Kind wussten nun also Bescheid. Und ich war so frei wie noch nie. Zu Beginn!

Ich freute mich auf mein neues Leben, auf alles was es für mich bereithielt. Binnen zwei Tagen war mein Outing das Gesprächsthema im Ort: „Pippa ist lesbisch.“

Und ich fühlte mich stärker denn je, war präsent und ging stolz mit meiner Tochter auf den Spielplatz, um allen zu zeigen: „Ja, ich stehe auf Frauen. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, geht es uns gut!“

Marlene schwirrte in dieser Zeit immer durch meinen Kopf, und sobald Mia schlief war sie oft bei mir. Ich war so verliebt, blind vor Liebe! 

Dann kam der Winter und aus uns wurde ein Paar. Marlene und ich verbrachten viel Zeit miteinander, und so lernte sie auch meine Tochter kennen. Marlene hatte auch Mias Herz von Tag 1 an erobert.

Die Wochen und Monate vergingen und Marlene, Mia und ich zogen in eine gemeinsame Wohnung. Der Punkt, an dem meine Zweifel begannen.

Die Zweifel

Es war Mai 2020: Corona, Quarantäne & Zweifel – diese Nomen treffen wohl sehr gut auf diese Zeit.

Ein Zusammenleben in Ausnahmezeiten wie diesen verlangt langjährigen Paare bestimmt viel ab, aber für frisch Verliebte, die versuchen Patchwork zu verstehen und zu leben, ist es vielleicht noch härter. Jeder, der sich trotz Kinder dazu entschlossen hat, eine Ehe zu beenden und jemanden Neues an seiner/ihrer Seite hat, weiß, wie schwierig es ist, einen Weg zu finden, der für alle Beteiligten passt. Egal, ob man sich outet und eine homosexuelle Beziehung eingeht oder eben erneut eine heterosexuelle Beziehung. Ich habe es mir definitiv leichter vorgestellt, als es ist. Mehr noch: ich zweifle daran, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

Nicht zuletzt wegen eines wesentlichen Aspekts:  Kann ich mir ein (Sex-)Leben, überhaupt vorstellen, das ausschließlich erfüllt wird von einer Frau? Ich habe es subjektiv betrachtet ziemlich schnell an die große Glocke gehängt, dass ich „lesbisch“ bin. Ich wollte dieses Outing einfach hinter mich bringen, kurz und schmerzlos. Doch immer mehr zweifle ich: bin ich wirklich lesbisch, so wie alle Welt jetzt denkt?  Zum damaligen Zeitpunkt mag ich das so gefühlt haben, denn da hatte ich keine Lust auf Männer. An die Konsequenzen habe ich dabei jedoch nicht gedacht. Was, wenn mir (m)ein (Ex-)Mann fehlt – im Alltag – und im Bett? Auch wenn er und ich wollten, ich könnte doch gar nicht mehr zurück – denn jeder denkt, dass ich lesbisch bin. Was würde das Dorf nun wieder denken? 

Ich habe das Gefühl, dass ich eine Entscheidung getroffen habe, die mich in der Situation gefangen hält: einmal geoutet, immer geoutet.

Mein Exmann fehlt mir, obwohl ich Marlene liebe. Ich vermisse meinen besten Freund, den ich abends von meinem Tag erzähle. Auch wenn ich mit Marlene über alles reden kann. Aber sie ist halt nicht er. Wir waren über so viele Jahre ein Team, ich wollte doch ursprünglich nur ein wenig Abwechslung. Und da steh ich nun, geoutet als lesbisch… wobei das so ja nicht mal stimmt! Autsch.

Ich wollte raus aus meinem Alltag, raus aus diesem „langweiligen“ Leben, das mich so eingeengt hat. Jetzt bin ich raus und ich wünsche mir nichts mehr, als einen „langweiligen“ Alltag. Ziemlich oft reden Marlene und ich über genau diesen Alltag. Er bereitet ihr Angst, denn eigentlich wollte sie nie Kinder.
Sie ist noch nicht wirklich bereit für das Familienleben, das ich mir so sehr zurück wünsche. Doch: Will ich das überhaupt mit ihr? Genau das Leben hatte ich ja mit einem Mann –  und ich hab alles hingeschmissen.

Dazu kommen Schuldgefühle gegenüber meiner Tochter, denn ich hab ihr den Alltag mit ihrem Papa genommen. Ich zweifle wirklich sehr.

Diese Worte niederzuschreiben tut weh. Aber es sind Gedanken, die mich täglich begleiten.

Ich habe Angst, dass ich mein Leben lang die Entscheidung bereuen werde. Es ist seltsam als „lesbisch“ abgestempelt zu werden obwohl ich selbst nicht mal sicher bin, ob es stimmt. Ich lebe ein Leben, welches ich mir zwar selbst ausgesucht habe, und dennoch ist es so anders als ich es erwartet habe.

Begleitet wird mein Weg von einer Psychologin, dennoch suche ich auch den Austausch mit Menschen, denen es vielleicht ähnlich geht.