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Darf Deutschland beim Töten helfen?

Anfang Januar 2020 wurde der iranische Top-General Qassem Soleimani auf Befehl des damaligen Präsidenten Trump im Irak durch eine Kampfdrohne der Kategorie MQ 9 getötet. Die Tötung war völkerrechtswidrig, urteilte die überwiegende Mehrheit der Völkerrechtswissenschaft.
Auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen Agnes Callamard bezeichnete die gezielte Tötung auf Soleimani als ungesetzlich und als Verstoß gegen die internationalen Menschenrechte. 

Deutsche Beteiligung für US-Drohnentötungen 

Was vielen vielleicht gar nicht bewusst ist: Ohne deutsche Unterstützung wäre der Angriff nicht möglich gewesen, denn der Einsatz derartiger Kampfdrohnen in Konfliktgebieten wird über die US-Militärbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz koordiniert – dem größten US-Militärstützpunkt außerhalb der Vereinigten Staaten. Darauf befindet sich eine Satelliten-Relaisstation, über die der Datenstrom zur Fernsteuerung von Kampfdrohnen in verschiedenen Einsatzgebieten in Echtzeit geleitet wird. Darüber hinaus werden Überwachungsbilder ausgewertet und Schlüsseldaten verarbeitet, die maßgeblich für die konkreten Angriffsausführungen sind. Ramstein gilt als der größte Knotenpunkt für Drohnensignale außerhalb der USA und ist, wie Recherchen von Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR 2014 offenlegen, unverzichtbar für das globale Drohnenprogramm der Amerikaner

Die Wichtigkeit des Stützpunktes für die US-Luftwaffe auf deutschem Boden bestätigte der frühere US-Drohnenpilot Brandon Bryant zuletzt in seiner Vernehmung vor dem NSA-Untersuchungsausschuss. Er berichtete, dass jede einzelne Dateninformation, die zu Fluggeräten oder Mannschaften übertragen wird, über Ramstein liefe. 

Menschenrechtswidrige Hinrichtung oder erlaubte Tötung im Krieg?

Irak, Afghanistan, Pakistan, Somalia, Libyen und Jemen. Das sind derzeit die Einsatzgebiete für den amerikanischen „Kampf gegen den Terror“. Dort werden Menschen aus unbemannten Flugzeugen getötet.
Der Soldat, der den Abzug drückt, ist nicht in der Nähe des Einsatzortes, sondern sitzt tausende Kilometer entfernt irgendwo vor einem Bildschirm, in der Hand eine Kontrollkonsole, die an ein Videospiel-Joystick erinnert. Drohnentötungen sind rechtlich schwer überprüfbar, weil es sich unter gewissen Umständen um eine erlaubte Tötung im Krieg handeln kann – oder eben um eine menschenrechtswidrige Hinrichtung ohne Urteil. Trotz erheblicher rechtlicher Bedenken wird für den Einsatz von Kampfdrohnen argumentiert, dass diese präziser und effektiver seien, als bemannte Flugzeuge. In der Realität kommt es jedoch immer wieder zu Angriffen auf Zivilisten und nicht militärische Einrichtungen.
Während man bei der Air Force bei solchen Fällen von Kollateralschäden spricht, sieht die deutsche Justiz bei der Kriegsführung durch Drohneneinsätze eine erhebliche Gefahr für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und mahnt, dass das Völkerrecht bei derartigen Einsätzen teilweise nicht eingehalten wird. 

Deutsche Mitverantwortung

Die Mitverantwortung Deutschlands für Drohnenangriffe im Nahen Osten beschäftigt seit 2014 die deutschen Verwaltungsgerichte. Geklagt hatten drei Jemeniten mit Unterstützung des ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) vor dem Verwaltungsgericht in Köln und später vor dem OVG Münster. Sie forderten von der Bundesrepublik, die Nutzung der Air Base Ramstein durch die USA als Satellitenrelaisstation (Grundlage hierfür ist der NATO-Truppenstatut aus den 1950er Jahren) im Rahmen von Drohneneinsätzen zu kontrollieren und im Fall von Rechtsverstößen zu unterbinden. 

Vier Raketen, abgefeuert von US-Drohnen, schlugen am Abend des 29. August 2012 auf einer Hochzeitsfeier in Khashamir im Osten des Jemen ein. Die Kläger überlebten den Angriff, verloren aber mehrere Familienangehörige dabei und sind bis heute schwer traumatisiert. Sie fürchten seither um ihr eignes Leben und berufen sich auf die Lebensschutzgarantie aus Art. 2 Abs 2 GG:
Die Bundesregierung sei verpflichtet das Leben von Menschen auch außerhalb der Bundesrepublik zu schützen, soweit sie darauf Einfluss hat. 

Die Klage hatte in zweiter Instanz Erfolg.
Die Richter:innen in Münster stellten sich einem heiklen Unterfangen, denn mit ihrem Urteil war politische Einmischung – auch noch in den sensiblen Bereich der Außenpolitik – vorprogrammiert.
Die Bundesregierung bekam vom OVG Münster außenpolitische Hausaufgaben: Sie wurde gerichtlich verpflichtet, künftige US-Drohneneinsätze über Ramstein durch geeignete Maßnahmen zu kontrollieren.
Dabei sei sicherzustellen, dass sich direkt bewaffnete Angriffe ausschließlich auf zulässige militärische Ziele beschränken und völkerrechtskonform sind. Damit trifft die Bundesregierung eine aktive Nachforschungspflicht gegenüber dem großen Bündnispartner jenseits des Atlantiks, um das zivile Leben im Ausland zu schützen. 

Eine derartig rechtsstaatliche Prägung deutscher Außenpolitik akzeptierte die deutsche Bundesregierung jedoch nicht und legte gegen dieses Urteil Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein. 

Wegschauen verletzt nicht das Recht auf Leben: Drohnenurteil des Bundesverwaltungsgerichts

Die Revision hatte Erfolg. Die Leipziger Richter:innen des Bundesverwaltungsgerichts stellten  mit ihrer Entscheidung vom November 2020 sicher, dass es zu keinem diplomatischen Eklat  kommt und wahren die außenpolitisch freie Handlungsfähigkeit der deutschen Bundesregierung. 

Zwar wird die grundrechtliche Schutzpflicht Deutschlands gegenüber im Ausland lebenden Menschen anerkannt.
Die Abweisung der Klage wurde unter anderem aber damit begründet, dass sich die Bundesregierung bereits eine Zusicherung der USA eingeholt habe, dass Aktivitäten aus US-Militärliegenschaften in Deutschland, im Einklang mit geltendem Recht erfolgen würden. 

Das ist nicht nur realitätsfern, sondern stärkt zudem eine Haltung nach dem Vorbild der berühmten drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. 

„Weitergehende Schritte […] muss die Bundesregierung wegen der massiven nachteilhaften Auswirkungen für die außen-, bündnis- und verteidigungspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht in Betracht ziehen.“

Eine solche außenpolitische Vormachtstellung erscheint aus Gründen der Gewaltenballance bedenklich. Berechtigterweise wird im außenpolitischen Kontext zwar oftmals vor der politischen Einmischung der Gerichte gewarnt. Dabei ist aber gerade die Entscheidung des BVerwG politisch: das Gericht vermeidet, in die Verlegenheit zu kommen, geltendes Völkerrecht und deutsche Grundrechte entgegen der außenpolitischen Interessen der Bundesregierung durchsetzen zu müssen. 

Auswirkungen für die zukünftige Sicherheitspolitik

Der Angriff auf den iranischen General Qassem Soleimani zeigt, dass eine bleibende Passivität seitens der Bundesregierung gegenüber amerikanischen Kampfdrohneneinsätzen auch sicherheitspolitische Gefahren birgt.
Die größte Militärmacht der Welt könnte durch einen derartigen Angriff eben mal einen bewaffneten Konflikt mit einer weiteren regionalen Großmacht vom Zaun brechen, bei dem Deutschland territoriale Unterstützung leistet. Dabei stellt sich völkerrechtlich die Frage, ob der amerikanische Drohnenpilot in Deutschland als Konfliktpartei legitimes Gegenangriffsziel sein kann? Mit fortgeschrittenen Waffentechnologien bekommen Konflikte neue Dimensionen, deren rechtliche Einordnung noch nicht eindeutig geklärt sind. Zwar ist die Debatte um Kampfdrohneneinsätze nicht neu, jedoch kommt sie jetzt erst in der Öffentlichkeit an, weil immer mehr Staaten (darunter auch Deutschland) Interesse an deren Anschaffung signalisieren. Der zunehmenden Einsatz von Drohnen bedeutet konkret, dass es immer schwieriger wird, „Konflikt“ von Nicht-Konflikt zu trennen. Denn so kann ein Konflikt zwischen den USA und dem Iran auf einmal auch uns betreffen, weil Irans wichtigster General von deutschem Boden aus getötet wurde. 

Über die Autorin:

Bild: Uni Leipzig

Lisa Wiese
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
und Doktorandin am Lehrstuhl für
Europarecht,
Völkerrecht
und Öffentliches Recht
an der Universität Leipzig

“Ich wusste nicht so recht, was ich mit einem Jungen anstellen sollte”

“Als ich beim ersten Kind sofort geplant schwanger wurde, hatten wir beide von Anfang an das Gefühl, dass es ein Mädchen wird. Ich kann gar nicht sagen, warum, aber die Vorstellung war einfach da. Unsere kleine Anna ;-)…

Der große Bruder für die kleine Schwester

Wir haben einen Prenataltest machen lassen, das Geschlecht erfuhr ich bei der Frauenärztin. Ich weiß noch, wie sie mich fragte, ob ich das Geschlecht wissen will und ich dachte: „Brauchst du mir nicht sagen. Ich weiß eh, dass es ein Mädchen ist.“ 
Als sie dann sagte, es sei ein Junge, bin ich aus allen Wolken gefallen. Ich musste mich stark zusammenreißen und habe auf dem Weg zurück zum Auto nur geheult.  Ich fand es auch irgendwie befremdlich, ein anderes Geschlecht in meinem Bauch zu tragen (klingt jetzt blöd). 

Irgendwann in der Schwangerschaft dachte ich dann: “Dann wird es halt ein großer Bruder für die kleine Schwester, so wie bei uns” (mein Bruder ist 3 Jahre älter als ich).

In der 2. Schwangerschaft war mir (anders als bei der ersten) total übel, daher dachte ich, dass es diesmal ein Mädchen sein muss.
Das Ergebnis des Prenataltests wurde mir dann am Telefon übermittelt…Ich habe es äußerlich mit Humor genommen, hatte aber echt dran zu knabbern und habe viel geweint. 

Alle in meinem Umfeld wussten, dass ich ein Mädchen haben wollte, daraus hatte ich auch nie ein Geheimnis gemacht. Und alle reagierten daher natürlich mit Mitleid (Oh, nein! Ach, du Arme!), was es nicht wirklich einfacher machte. Mein Mann und meine Familie freuten sich, nur meine Schwiegermutter reagierte mit: Ach, schade, ich hatte mir immer ein Mädchen mit Locken gewünscht! Sehr einfühlsam…

Gefreut habe ich mich trotzdem auf das Kind (ich muss dazu sagen, dass ich vor der 2. Schwangerschaft eine Fehlgeburt in der 9. Woche hatte, was natürlich einiges bezüglich „Hauptsache gesund“ gerade rückt), wenn auch etwas verhalten und ich musste mich an den Gedanken echt gewöhnen (und die Namensfindung für einen 2. Jungen fanden wir beide wirklich schwer)!

Noch heute bin ich neidisch auf alle Frauen mit Mädchen, schiele in jeden Kinderwagen und vor allem bei der Kombi Junge/Mädchen versetzt es mir einen Stich. Das ist irgendwie immer noch das „Optimum“ in Deutschland…  Die Reaktion im Umfeld, wenn man mit dem gleichen Geschlecht nochmal schwanger ist (egal ob 2 Mädchen oder 2 Jungs), ist immer etwas zögerlich.

Sind Mamas und Töchter sich automatisch näher?

Ich habe mich immer als Mädchenmama gesehen, bin selber durch und durch und sehr gerne eine Frau. Ich wusste nicht so recht, was ich mit einem Jungen anstellen soll. 

Dabei geht es aber weniger um „rosa Kleidchen kaufen und Zöpfe flechten“, was viele Frauen so oft sagen, sondern ein Mädchen wäre mir einfach näher gewesen. Ich habe selber zu meiner Mutter ein sehr enges, freundschaftliches Verhältnis, das habe ich mir für mich selber immer gewünscht. Später mit meiner Tochter Kurztrips zu machen, shoppen zu gehen etc. 

Mit einem Mädchen wäre ich nicht in der Unterzahl zuhause, es würde sich ausgeglichener anfühlen. Wenn sie mit meinem Mann einen „Männerausflug“ machen, wenn sie sich kaputtlachen, weil jemand gerülpst/gepupst hat, sich darüber streiten, welcher Superheld der Stärkere ist oder wenn sie einfach soooo wild sind, dass es mir manchmal zu viel wird. Ich puzzle, bastel und male z.B. gerne, da kann ich bei meinen Jungs nur bedingt punkten ;-). 

(Im Übrigen bewundere ich alle Jungsmamas (mit oft mehr als 2 Jungs, z.B. Claudia von wasfürmich), die damit überhaupt kein Problem haben und das wunderbar finden.  Ich wäre auch gerne so!!!)

Auch denke ich, dass eine Oma mütterlicherseits meist sehr viel mehr Anteil an den Enkeln hat als die Mutter des Vaters.
Ich selbst besuche mit den Jungs regelmäßig meine Eltern, fahre mit ihnen in den Urlaub etc.  Meine Schwiegermutter sieht die Kinder max. 3x im Jahr, obwohl sie in der Nähe meiner Eltern wohnt (was auch mit der schwierigen Beziehung zu meinem Mann zu tun hat – dazu später).

Ein drittes Kind bekommen wir nicht, mein Mann möchte keins mehr und auch ich muss sagen, dass ich mit den 2 Jungs und ohne Familie vor Ort mehr als gut ausgelastet bin. Außerdem bin ich nun schon 40, man sollte das Glück nicht herausfordern. Und was sollte ich einem 3. Jungen sagen – dass es ihn gibt, weil Mama noch ein Mädchen haben wollte?!?

Gott sei Dank haben viele meiner Freundinnen auch Jungs (selbst meinen Freundinnen habe ich kein Mädchen „gegönnt“, obwohl auch sie so gerne eins gehabt hätten), erst heute waren wir zu dritt mit 6 Jungs unterwegs, das ist schon lustig. 

Inzwischen sehe ich auch Vorteile an der Kombi Junge/Junge. Wir können Klamotten und Spielzeug nutzen, die Jungs spielen super zusammen und haben trotz 3 Jahre Altersunterschied die gleichen Themen und Interessen, sie sind sich sehr nahe, teilen sich ein Zimmer und verstehen sich wirklich gut. Für die Jungs ist es gut so, und auch mein Mann meinte letztens, er sei froh, dass wir Jungs haben, da wüsste er wenigstens, wie sie ticken… 

Mit meinem Mann kann ich über das Thema übrigens nicht sprechen, er kann den (so großen) Wunsch nach einem Mädchen nicht nachvollziehen und bügelt das Thema sehr schnell ab. Er ist da eher von der Sorte „Hauptsache gesund“.

In 20 Jahren: bei gemeinsamen Besuchen kochen, einen Whiskey trinken und sich nahe sein

Daher habe ich im letzten Jahr mit einer Therapeutin darüber gesprochen, weil mich das Thema nicht loslässt und ich nicht mehr darüber grübeln will. Dabei kam raus, dass ich aus eigener Erfahrung die Mutter-Tochter-Beziehung sehr hoch stilisiere und hingegen die Mutter-Sohn-Beziehung recht negativ einstufe. 

Mein Bruder und auch mein Mann (beide 40+) haben kaum eine bzw. eine schlechte Beziehung zu ihren Müttern, sind genervt, wenn sie anrufen „müssen“ und haben sich einfach nichts zu sagen. 

Die Psychologin erzählte mir, dass heute durch eine andere Art von Erziehung (geschlechterneutraler als in den 70ern/80ern) die Bindung von jungen Männern zu ihren Müttern oft ganz anders sei (sie also durchaus gerne zuhause anrufen, viel Wert auf ihre/die Meinung ihrer Mutter legen, mit Mama nen Kaffee trinken gehen etc.). 

Inzwischen denke ich, dass ich einer Tochter recht viel aufgebürdet hätte (so zu sein, wie ich sie gerne hätte). Es ist ja nicht gesagt, dass sich immer eine enge Freundschaft zwischen Mutter und Tochter entwickelt, wie das bei mir der Fall ist. Ich habe Freundinnen, die haben kaum Kontakt zu ihren Eltern/Müttern, obwohl sie inzwischen selbst Kinder haben.

Insofern hoffe ich einfach, dass meine Söhne mich in 20 Jahren gerne besuchen kommen, wir zusammen kochen und nach dem Essen den ein oder anderen Whiskey trinken werden und sie mir (und ich ihnen) gefühlsmäßig immer nahe sein werden.”

Das zweite Mal an Covid-19 erkrankt

“Das erste Mal habe ich mich vermutlich in der Klinik in der Abteilung für Kardiologie angesteckt.
Ich bin Ärztin und Anfang April wurden auch in unserem Landkreis die ersten Fälle immer mehr. Von den Nachbarländern hatten wir schon vieles in Bezug auf Corona gehört, in Deutschland gab es zu diesem Zeitpunkt großen Notstand in der Versorgung mit Schutzausrüstung und wir hatten die Maßgabe ohne Maske zu arbeiten. So wurde ich schnell zu einer Kontaktperson eines Patienten, der im Verlauf positiv getestet und an COVID erkrankt war.

Ich hatte Nachtdienst und bekam einen Absonderungsbescheid des Gesundheitsamtes, dass ich als enge Kontaktperson (ich hatte den Patienten längere Zeit ohne Schutzausrüstung untersucht) zuhause bleiben muss. Der Arbeitgeber hatte die Maßgabe gegeben, dass man arbeiten darf/muss/kann, wenn man keine Symptome aufweist. Streng genommen hatte ich Kopfschmerzen und Halsschmerzen, wer hat das nicht mal nach 13h Nachtdienst. Also machte ich eine SARS-COV-2 PCR (tiefer Nasen-/Rachenabstrich) in der Klinik, um weiter arbeiten zu können. 4h später der Anruf des Labors: der Test war positiv. Ich wurde von Kollegen abgelöst und ging nach Hause. 14 Tage Quarantäne.
Außer Kopfschmerzen, Halsschmerzen und vermehrter Müdigkeit hatte ich keine Beschwerden.
Es gab viele Informationen in den Medien, beginnende Studien, viel Nützliches, aber auch viel Beängstigendes. Schwere Verläufe nicht nur bei älteren, vorerkrankten Menschen, auch junge, fitte Menschen, die stationäre Behandlungen, Sauerstofftherapie brauchten. Irgendwann konnte ich die Nachrichten nicht mehr sehen. Bekam ich jetzt Husten, kriegte ich vermeintlich schwerer Luft, nur weil dies so beschrieben war? Ich vertraute auf meinen Körper und die Immunabwehr und kam mit einem sehr milden Verlauf und gutem Wohlbefinden aus der Quarantäne.

Noch mal Corona? Mehr als unwahrscheinlich. Dachte ich.

Ca. 5 Monate später, im September, machte ich bei der Betriebsmedizinerin einen Antikörper Test. Negativ. Da ich einen sehr milden Verlauf hatte und bereits einige Zeit verstrichen war, gehe ich davon aus, dass ich entweder überhaupt keine Antikörper gebildet habe oder sie nicht mehr nachweisbar waren. 
Im November, also 7 Monate nach der ersten Infektion, wurde ich krank. Ich hatte zuvor Nachtdienste in der Zentralen Notaufnahme, etwa 2-3 Tage später fühlte ich mich schlecht. Höllische Kopfschmerzen, Hals- und Gliederschmerzen, Schnupfen, Husten, Erschöpfung, Unwohlsein. Nachts musste ich mich mehrfach übergeben. Grippe dachte ich, meldete mich krank. Nach 3 Tagen keine Besserung, sodass die Klinik mich bat, nochmals einen Corona Abstrich zu machen. Nochmal Corona? Mehr als unwahrscheinlich. Dachte ich.

Beim Hausarzt ließ ich mich abstreichen, am nächsten Morgen 5 verpasste Anrufe auf dem Handy. Es meldet sich sicher niemand nur um mitzuteilen, dass ein Test negativ ist. Das Gesundheitsamt bestätigte, dass die SARS-COV-2 PCR erneut positiv ist. In unserem Landkreis war bislang erst eine Zweit-/Reinfektion beschrieben. Ich selbst war immer noch krank, erschöpft, mit zusätzlich Husten, Geschmacksverlust. Zum Glück kein Fieber, keine Atemnot. Wo hatte ich mich diesmal angesteckt, fragte ich mich. In der Notaufnahme isolieren wir alle Patienten, die im weitesten Sinne COVID haben könnten, Schutzausrüstung gibt es inzwischen ausreichend. Privat hatte ich kaum jemanden getroffen, wenn dann draußen im Freien und mit ausreichend Abstand. War vielleicht doch meine erste SARS-COV-2 PCR falsch positiv? Es wurde versucht, den ersten Abstrich von April zu beschaffen, um eine mögliche Mutation des Virus zu detektieren oder um zu prüfen, ob der Test tatsächlich positiv war. Leider hatte man die Probe inzwischen verworfen. Letztlich wird man die Frage nach der Ansteckung oder einer Reaktivierung des Virus nicht abschließend klären können. Weitere Tests wurden durchgeführt. In Stuttgart erfolgt aktuell eine Studie, die medizinisches Personal und den Verlauf, die Serokonversion der Antikörper nach einer COVID – 19 Erkrankung, erforscht. Ich schickte Proben hin. IgA Antikörper habe ich schon gebildet, der weitere Verlauf bleibt abzuwarten. 
Da ich die erste COVID Erkrankung gut überstanden hatte, hatte ich Vertrauen, dass es auch diesmal wieder gut werden würde. Auch wenn ich deutlich mehr und stärkere Symptome hatte. Zwischendurch erkrankte auch mein Partner, mit dem ich zusammen wohne. Auch ihn erwischte es heftig mit Fieber, Schüttelfrost, Husten, Schnupfen, Gliederschmerzen, Kopf- und Halsschmerzen. Geschmacksverlust. Er schmeckt auch heute, 4 Wochen nach gesicherter Infektion, noch wenig. Hier mache ich mir Vorwürfe und Sorgen. Was, wenn der Geschmack nicht wieder kommt? Hoffen wir das beste.
Immer noch wache ich häufig mit Kopfschmerzen auf, fühle mich tagsüber müde, schlapp. Muss mich deutlich mehr anstrengen um über längere Zeit konzentriert zu bleiben. Vergesse Dinge. Damit kann ich leben, ich kenne und sehe deutlich schwerere Verläufe, kann mich hiermit noch glücklich schätzen. In der Zentralen Notaufnahme haben wir täglich mehrere COVID-19 positive Patienten, einige davon bereits Sauerstoffpflichtig, schwer erkrankt. Tendenz steigend.” 


An alle Corona-Leugner:
Wenn ihr schon der Wissenschaft nicht glaubt und Offensichtliches so vehement leugnet: haltet euch an die Maßgaben, haltet Abstand, schützt euch und eure Mitmenschen, seid solidarisch. Damit wir genügend Kapazitäten haben, auch euch im Falle einer Ansteckung, Erkrankung adäquat medizinisch zu versorgen. 

Marie (Name geändert), ist junge Ärztin in einem Krankenhaus und hat für Coronaleugner null Verständnis

Der größte Massensuizid Deutschlands

Eltern injizierten ihren Kindern Giftspritzen, ließen sie tödliches Gas einatmen oder auf Giftkapseln beißen. Manche erschossen oder erhängten ihre Kinder und dann sich selbst. Viele Frauen banden sich ihre Kinder an ihre Körper und stiegen, beschwert von Steinen, in die Flüsse Peene, Tollense oder den Schwanensee.  

Der größte Massensuizid Deutschlands geschah in Demmin, einer circa 82 km² großen Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. 

Vom 30. April 1945, dem Tag Hitlers Suizids bis zum 3.Mai 1945 starben mehr als 1000 Menschen in Demmin. Neuere Schätzungen gehen bei der Anzahl sogar von bis zu 2500 Toten aus: Kinder, Frauen und Männer. Damals lag die Einwohnerzahl bei circa 15.000, während heute noch um die 10.600 Menschen in Demmin wohnen. Das Makabere daran ist, dass unter ihnen auch hunderte sind, die nicht als “Freitote” bezeichnet werden können, da sie nicht durch eigene Hand starben, sondern von ihren Eltern und Angehörigen bewusst getötet wurden. 

Das Warum?

Die Angst vor den nahenden russischen Truppen aus dem Osten war im Mai 1945 groß. Die Demminer hörten viele Gerüchte: Die russische Armee würde die deutsche Bevölkerung foltern und viele Frauen und Mädchen vergewaltigen. Hinzu kam, dass das Weltbild der Demminer, wie auch das vieler anderer Deutscher, in Trümmern lag. Nach dem Ende des deutschen Reiches, dem Verlieren des 2. Weltkriegs und dem Tod Adolf Hitlers sahen einige keinen Grund mehr mit ihrer Familie in einem Land weiterzuleben, das zukünftig von Franzosen, Amerikanern und Russen regiert werden würde.

Waren die Menschen einfach nicht stark genug ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen? Waren es die Aussichtslosigkeit und ihr zerstörtes Weltbild, die sie zu Mördern ihrer eigenen Kinder machten? War es die Massenpanik, oder war es einfach etwas, dass wir in der heutigen Zeit schlichtweg nicht erklären können? 

Letztlich waren sie davon überzeugt, dass sie ihren Kindern so Scham und Qualen ersparen würden. 

Was in dieser Tragödie jedoch nicht vergessen werden sollte, ist, dass es die deutschen Soldaten waren, welche die Demminer Frauen, Männer und Kinder in diese ausweglose Situation gebracht hatten. Hitlers Armee hatte das Fliehen unmöglich gemacht, indem sie bei ihrem Rückzug alle Brücken, die nach Demmin führten, gesprengt hatten. Die Demminer waren eingekesselt, eine Flucht unmöglich.

Resultat dieser Sprengung war aber auch, dass die russische Armee im Fortschreiten eingeschränkt und gleichzeitig gezwungen wurde in Demmin zu verweilen. Sie legten die Stadt in Flammen, folterten und erschossen Menschen und vergewaltigten viele Frauen.
Die Ängste der Demminer wurden also bestätigt. Ihre Panik war damit nicht unbegründet, denn die russische Armee hinterließ Ende Mai 1945 nur noch ein Haufen Schutt und Asche in Demmin. 

War es also besser dem zu entgehen, in dem man sich selbst und seiner Familie das Leben nahm?

Demmin sollte nach diesen Tagen im Mai 1945 nie wieder so rekonstruiert werden und nie wieder so sein, wie es vorher einmal war. Von nun an sollten diejenigen Entscheidungen treffen, die gerade eben noch die Stadt niedergebrannt hatten. Die russischen Allierten sollten über die Zukunft derer walten, die sie gerade eben noch gefoltert und vergewaltigt hatten.

Kein leichtes Los für diese Stadt und auch keines, das eine Verarbeitung dieses Themas erleichtern sollte.

Die DDR Gegenwart

Was Demmin so speziell macht, ist, dass die Verarbeitung dieses Traumas und die öffentliche Auseinandersetzung mehr als 70 Jahre gedauert hat und eigentlich erst 2015 begann. Als eine Stadt in der DDR war der Einfluss der Sowjetunion ab 1945 bis zur Wende 1989 weitreichend. Gleichzeitig ließ die sowjetische “Geschichtsinterpretation”, die für die heroische Befreiung Deutschlands von den Fängen des Faschismus durch die russische Armee stand, keine Auseinandersetzung zu. 

Die Russen hatten gewonnen und es schien, als hätten ihre Kriegsverbrechen nie stattgefunden. Die mehr als tausend Demminer Toten waren in der DDR-Gesellschaft daher “nicht existent”. Niemand sprach über sie und Grabsteine gab es nicht. Die einzigen Orte, an denen diese Menschen existierten, waren in den Herzen und den Erinnerungen der Menschen und Familien, die sie überlebten. Nur diese wussten von dem Massengrab auf dem Demminer Friedhof. Nur diese haben die Leichen auf den Bänken liegen, an den Bäumen hängen und in den Flüssen schwimmen gesehen. Diese Überlebenden haben sie von Bäumen geschnitten, aus den Seen gefischt und sie auf Wagen zu ihrer letzten Ruhestätte verfrachtet. Ihr Leben ging 1945 weiter in einem Demmin, das zum Vergessen und Stillsteigen verdammt war.

70 Jahre später

Nach dem Fall der Mauer zeigte sich etwas mehr Interesse. JournalistInnen tasteten das Thema zögerlich an, es fand kein weitreichendes Interesse. Erst 2015 und 2016 begann die echte Auseinandersetzung. Plötzlich gab es Artikel in allen großen Illustrierten, in Zeitungen und auf vielen Fernsehsendern. Gleichzeitig begann der Dreh für den Dokumentarfilm von Martin Farkas “Über Leben in Demmin” welcher 2018 in die Kinos kam, und große Erfolge feierte. Dabei wird nicht nur die Vergangenheit wiedergegeben, sondern auch die makabere Entwicklung in Demmin angesprochen, die alljährlich mit einem Trauermarsch einhergeht.

Neonazis: trampeln mit den Stiefeln auf dem Andenken derer, die sie vorgeben zu gedenken

Diese Erinnerungskultur und Verarbeitung hat auch eine andere Klientel auf die Bühne gerufen – Neonazis. 

Neonazis instrumentalisieren die Tragödie des Demminer Massensuizids jedes Jahr am 8.Mai für ihre eigenen perfiden Zwecke. Der “Trauermarsch” umfasst dabei einen Fackelzug mehrerer hunderter Neonazis durch die Demminer Innenstadt und endet mit patriotischen Reden am Peeneufer, dem Ort an dem vor mehr als 60 Jahren die Leichen vieler Demminer aus dem Wasser gefischt wurden. Die wenigsten der Trauermarschteilnehmer und Redner sind Demminer.

Sie trampeln mit ihren Stiefeln auf dem Andenken derer, die sie vorgeben zu gedenken.  
Jedes Jahr werden die Demminer somit auf perfide Art an ihre Geschichte erinnert.
Aber – und umso wichtiger zeigt der 8. Mai in Demmin auch, wie viele sich gegen diese Art der Erinnerung stellen. Demmin kann und will mehr sein. 

In den letzten Jahren sind die Gegendemonstrationen des neutralen und linken Flügels auf beachtliche Größe angewachsen. Friedensfeste wurden gefeiert und insbesondere die vielen Freiwilligen hinter dem Aktionsbündnis 8.Mai / Demmin Nazifrei zusammen mit dem Einfluss der Band Feine Sahne Fischfilet in einen bunten Tag verwandelt.

Ein Ausblick

Die Auseinandersetzung mit der Demminer Geschichte ist daher mit vielen verschiedenen Aspekten behaftet. Sie soll einerseits den Toten und Überlebenden angemessen gedenken. Andererseits soll sie aber auch deren Beweggründe ehrlich und offen darstellen. Sie soll den rechten Gedanken keinen Spielraum zu geben, aber dennoch eingestehen, dass die russische Armee Kriegsverbrechen begangen hat. 

Dabei geht es nicht darum die Stadt in ein negatives Licht zu rücken, sondern eher darum, Menschen zu finden, die diesen Ort für etwas nutzen, dass weit über die Grenzen des Landkreis Vorpommern Greifswalds hinaus reicht.- Zur Aufklärung und zum Gedenken an die Opfer der Massensuizide in Deutschland. 

Über die Autorin

Katharina von Oltersdorff-Kalettka, geboren in Demmin, lebt inzwischen in Norwegen. Nur durch Zufall erfuhr sie von der dunklen Geschichte ihrer Geburtsstadt: als sie auf norwegisch ein Buch las, das sich mit dem düsteren Kapitel Demmins auseinandersetzte.

Katharinas Website und ihr Instagram-Handle

Literaturempfehlungen zum Thema:

“Kind, versprich mir, dass du dich erschießt” von Florian Huber, „Vertreibung aus dem Paradies“ von Karl Schlösser
„Die Gespenster von Demmin“ von Verena Kessler

„Für das Umfeld gilt gerade jetzt in der Pandemie: bitte noch genauer hinsehen.“

Über 115.000 Frauen wurden 2019 in Deutschland Opfer von Gewalt. Wie kann das sein? Was läuft da schief?

Häusliche Gewalt hat in der Regel immer etwas mit Macht zu tun. Eifersucht, Kontrolle und Besitzansprüche spielen häufig eine zentrale Rolle. Zu Gewalt kommt es dann, wenn der oder die Täter*in sich in ihrer Machtposition bedroht fühlt. Nach wie vor leben wir in einer Gesellschaft, die sich zwar für tolerant und offen hält, von einer wirklichen Gleichberechtigung sind wir jedoch noch meilenweit entfernt. Solange das so ist, wird es immer Täter*innen geben, die sich Frauen gegenüber als überlegen fühlen und daraus einen Machtanspruch ableiten, den sie notfalls mit Gewalt durchsetzen. 

Ihr als Beratungsstelle habt täglich mit solchen Fällen zu tun: was und wie viel muss noch getan werden? Habt ihr konkrete Verbesserungsvorschläge?

Konkrete Verbesserungsvorschläge gibt es tatsächlich einige. Es müssten viel mehr Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser geben, so dass eine flächendeckendere Versorgung gewährleistet ist. 

Bei häuslicher Gewalt sind neben den Beratungsstellen viele verschiedenen Akteure wie Polizist*innen, Staatsanwält*innen, Ärzt*innen und noch einige Professionen mehr involviert. Es braucht Schulungen und Fortbildungen, um einen sensibleren Umgang mit von Gewalt betroffenen Menschen zum Standard und nicht zu einer Ausnahme zu machen. 

Das Thema Prävention ist ganz wichtig und vor allem eine, die schon im jüngeren Alter ansetzt und verschiedene Aspekte wie beispielsweise auch Teenage Dating Violence beleuchtet. 
Der Bereich der Täter*innenarbeit muss ausgebaut werden. Das Frauenunterstützungssystem unterstützt die Frauen, das Männerunterstützungssystem die Männer.
Aber es müssen auch Angebote für Täter*innen etabliert werden, die zum Ziel haben, die Gewalt dort zu stoppen, wo sie beginnt. Bei den Täter*innen selbst. 
Aber um einen optimistischen Ausblick zu haben, es tut sich was. Das Thema rückt immer mehr in Fokus. 

Was genau macht ihr in Eurer Beratungsstelle? Wie sieht die Hilfe für die Frauen konkret aus?

Wir beraten Frauen und Mädchen, die häusliche und sexualisierte Gewalt erfahren haben. Die Unterstützung ist dabei immer ganz individuell und auf die jeweilige Frau angepasst. Wir informieren Frauen beispielsweise über die Möglichkeiten des Gewaltschutzgesetzes. Dabei haben die Frauen die Möglichkeit auf zivilrechtlichem Wege Schutzmaßnahmen wie beispielsweise ein Kontakt- oder Näherungsverbot gegen den oder die Täter*in geltend zu machen. Wir vermitteln Kontakte zu Anwält*innen oder Therapeut*innen. Ein wichtiger Bestandteil ist das Abwägen von Risiken und das Erarbeiten von Sicherheitsplänen im Falle einer Trennung. In erster Linie hören wir aber auch einfach nur zu. Das Thema häusliche Gewalt ist häufig mit Scham besetzt. Die Frauen sind von den Täter*innen oft über lange Zeit sozial isoliert worden und hatten keine Möglichkeit, sich jemanden anzuvertrauen. Unsere Aufgabe ist es, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem die Frauen offen darüber sprechen könne, was sie erlebt haben. 

Wenn eine Frau jetzt Kontakt zu Euch aufnehmen will – was ist der einfachste Weg – und wie geht es nach der ersten Kontaktaufnahme weiter?

Die Frauen nehmen in der Regel im ersten Schritt per Telefon mit uns Kontakt auf. Diese Telefonate können ganz unterschiedlich sein. Manche Frauen wissen genau, wie eine mögliche Unterstützung durch uns aussehen könnte und manche Frauen möchten im Vorfeld lieber anonym bleiben und nicht so viel von sich preisgeben. Was ja verständlich ist. Der Schritt, sich an uns zu wenden ist selten einfach. 

Die Frauen können selbst entscheiden, ob Sie einen telefonische oder persönliche Beratung möchten. Hinter der jeweiligen Entscheidung liegen individuelle Gründe. Einige Frauen nutzen beispielsweise die Zeit, in der der Mann arbeitet, um zu uns in die Beratungsstelle zu kommen. Wiederum andere telefonieren mit uns auf dem Weg zum Einkaufen. 

Im ersten Gespräch erarbeiten wir gemeinsam mit der Frau wie wir ihr helfen können. Wir unterstützen und begleiten die Frauen dabei so lange, wie sie es wünschen. Manche konkrete Anliegen können schon in einem Termin geklärt werden und in anderen Fällen begleiten wird die Frauen über einen längeren Zeitraum. 

Was ganz wichtig ist, jede Frau, die zu uns kommt, ist einem ganz individuellen Risiko ausgesetzt. Das klären wir auf jeden Fall im ersten Gespräch. Die oberste Priorität hat die Sicherheit der Frau, dafür erarbeiten wir einen individuellen Sicherheitsplan. Wenn das Risiko zu hoch ist, kann es sein, dass eine Unterbringung in einem Frauenhaus der nächste Schritt ist. 

Hat die Frau eine konkrete Trennungsabsicht, sprechen wir deren Umsetzung detailliert durch. Hier ist es ganz wichtig zu wissen: Eine Trennung ist der gefährlichste Zeitpunkt. Wie ich am Anfang gesagt habe, in der Regel geht es immer um Macht. Eine Trennungserklärung nehmen viele Täter*innen nicht hin und die Gewalt eskaliert. 

Deshalb ist ein Drängen von Freund*innen oder dem Umfeld auch nicht ratsam. Eine solche Trennung muss gut vorbereitet sein. 

Wir arbeiten dabei ressourcenorientiert. Jede Frau bringt ganz eigene Stärken und Ressourcen mit. Unsere Aufgabe dabei ist es, diese wieder hervorzuholen und zu stärken und der Frau zu vermitteln „you can do it!“. 

An den Berichten von den betroffenen Frauen hat mich mit am meisten schockiert, dass nach der Tat/den Taten häufig Angehörige aber auch ÄrztInnen und PsychologInnen das, was den Frauen angetan wurde, heruntergespielten – oder den Frauen in irgendeiner Weise ein schlechtes Gewissen gemacht wurde. Ich las Sätze wie: „Na irgendwas musst Du ja gemacht haben“ (Satz einer Mutter zu ihrer Tochter) oder „Sind Sie sicher, dass Sie den Mann anzeigen wollen und somit sein Leben zerstören?“ (ein Arzt). Wieso ist das so? Kannst Du Dir das erklären?

In unserer Gesellschaft gilt immer noch das Bild der liebenswerten Frau bzw. treusorgenden Ehefrau und Mutter, die schön brav alles klaglos hinnimmt. Dazu kommt noch, dass sich in unserem patriarchalischen System Männer viel mehr erlauben und Grenzen überschreiten dürfen.

Oftmals spiegeln solche Aussagen aber auch die Hilflosigkeit der Personen aus dem Umfeld wider. Wenn jemand auf eine solche Art und Weise das Geschehene herunterspielt, dann muss derjenige sich in der Regel auch nicht weiter damit auseinandersetzen. 

Dazu kommt auch, dass der Mensch gerne das Gefühl von Kontrolle hat. Das begegnet mir auch häufig im Bereich der sexualisierten Gewalt. Da fallen oft Sätze wie „hätte sie mal nicht so viel getrunken“ oder „hätte sie nicht diesen Rock angezogen“. Das fällt alles unter victimblaming. Wenn also jemand sagt „du musst ja etwas gemacht haben“ schiebe ich jede Schuld der betroffenen Frau zu. Im Umkehrschluss fühlt sich der oder diejenige, die solche Aussagen trifft, dann ziemlich sicher. Ihr selbst kann sowas ja unmöglich passieren. Aber jeden von uns kann häusliche Gewalt treffen. Die Verantwortung liegt nie bei der betroffenen Person selbst, sondern immer bei den Täter*innen. Die Aussage des Arztes ist dabei auch symptomatisch. In den Köpfen muss endlich ankommen, dass nicht die Frau das Leben des Mannes durch eine Anzeige zerstört, sondern er das bereits durch seine Gewalttätigkeit selbst getan hat. 

Ganz oft bekommen die Frauen auch zu hören: „also ich hätte mich ja schon längst getrennt“. In einer Beziehung herrschen ganz eigene Dynamiken. Viele Frauen haben den engen Kontakt zu einem Supportsystem durch gezielte Isolation verloren. Oft sind Kinder involviert und es bestehen finanzielle und strukturelle Abhängigkeiten. Diese Sensibilität ist nur durch Aufklärung zu erreichen. 

Wir leben mitten in einer Pandemie. Das bedeutet: wenig soziale Kontakte und viel zu Hause sein. Für manche Frauen bedeutet es: die Hölle auf Erden. Schließlich leben einige von ihnen  mit dem Täter unter einem Dach. Spürt ihr das bei Eurer Arbeit? Nehmen die Anrufe zu – oder ist das Gegenteil der Fall?

Während des ersten Lockdowns war es zu Beginn fast schon gespenstisch ruhig. Was wir eben auch darauf zurückführen, dass die Frauen schlichtweg keine Möglichkeiten hatten, Kontakt aufzunehmen. Danach hatten wir das Gefühl, die Problemstellungen mit denen die Frauen zu uns kommen, werden komplexer. Neben der Gewalt kamen viele weitere Schwierigkeiten dazu. Finanzielle Probleme, Überforderung durch Homeschooling und Homeoffice beispielsweise.  

Bei uns kamen die Anrufe immer wellenartig. Ruhigere Zeiten haben sich mit stärker frequentierten abgewechselt. 

Unsere Beratungsstelle ist in einer ländlicheren Region, ich kann mir vorstellen, dass Frauennotrufe in Ballungszentren, da andere Erfahrungen machen. 

Wir arbeiten ja auch mit Frauen, die sexualisierte Gewalt in der Kindheit erfahren haben. Viele sind an Therapeut*innen angebunden oder haben sich über Jahre eine tragfähige soziale Struktur aufgebaut. Das ist plötzlich alles von einem auf den anderen Tag weggefallen und hat viele Frauen stark aus der Bahn geworfen.

Wie kann man in der aktuellen Situation diesen Frauen helfen? Gibt es da Eurer Meinung nach Wege und Möglichkeiten?

Für das Umfeld gilt gerade jetzt in der Pandemie, bitte noch genauer hinsehen. Konkret nachzufragen wie es den Nachbarinnen oder Freundinnen geht. Es gibt verschiedenen Aktionen auch auf Bundesebene z.B durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BFSFJ) oder das bundesweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, bei denen man sich Materialien wie Flyer oder Poster mit wichtigen Telefonnummern oder Angeboten im Internet herunterladen kann. Diese kann man vielleicht in dem Mietshaus, in dem man wohnt, ans schwarze Brett pinnen. Wenn nur eine Frau das sieht, die es in dem Moment gebrauchen kann, ist schon viel gewonnen. 

Ich bin immer dafür, die Frau bei einem Verdacht in einem ruhigen Moment anzusprechen. Die meisten Frauen werden erstmal abwinken. Hier bitte nicht drängen und einfach signalisieren, wenn du Hilfe brauchst, ich bin da. Vielleicht nimmt die Frau dieses Angebot nie an. Aber es macht einen großen Unterschied, wenn sie weiß, da ist jemand, der sieht mich und an den kann ich mich wenden. 

Wenn man merkt, dass beispielsweise eine Freundin von häuslicher Gewalt betroffen sein könnte, dann herrscht logischerweise erstmal eine große Unsicherheit. In der Regel stehen Frauenberatungsstellen auch Vertrauenspersonen offen und geben wertvolle Tipps wie man als Unterstützungsperson helfen kann. 

Ganz wichtig ist: Nichts über den Kopf der betroffenen Frau hinweg entscheiden. Sie erlebt durch die Gewalt in ihrem häuslichen Umfeld schon so viele Grenzverletzungen, dass es ganz wichtig ist, eine vertrauenswürdige und transparente Ansprechperson zu sein. 

Wegschauen darf auf jeden Fall bitte keine Option sein!

Was können wir als Individuen aktiv dazu beitragen, dass weniger Frauen zum Opfer von Gewalt werden?

Das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit tragen. Häusliche Gewalt ist keine Privatsache. Es muss darüber gesprochen werden. Immer und immer wieder. Das Thema darf kein Tabu sein. Jede*r muss sich überlegen, welchen Beitrag er leisten kann, dass eine echte Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen herbeigeführt werden kann. Das kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen geschehen. Zunächst kann sich jede*r einmal selbst ganz ehrlich fragen, was habe ich eigentlich beispielsweise für eine Einstellung zu den vorherrschenden Rollenbildern und wie vermittele ich diese meinen Kindern. 

Auf ganz pragmatischer Ebene: 

Bei vielen Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser sind die Träger kleinere autonome Vereinen, die man ehrenamtlich oder über Mitgliedschaften und Spenden  unterstützen kann. 

Wenn eine Frau mitliest, die Hilfe benötigt: Was möchtest Du ihr sagen?

Du trägst keine Schuld an dem, was Dir passiert oder passiert ist! In Deiner Region gibt es mit Sicherheit eine Frauenberatungsstelle, die Dich unterstützen kann. Du musst den Weg nicht alleine gehen. 

Gibt es sonst noch etwas was wichtig wäre zu erwähnen?

Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Sie zeigt sich nicht immer in Form von mehr oder weniger sichtbarer körperlicher Gewalt. Psychische Gewalt in Form von Beleidigungen und Abwertungen gehört genauso dazu wie beispielsweise sexualisierte oder finanzielle und soziale Gewalt. Egal welche Form, sie hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Betroffenen. 

Psychologin Tanja Glöckner-Pusic (Foto: privat)

Wichtige Adressen:

Bundesweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, das unter 08000 116 016 24h erreichbar ist und auch anonym berät. Online-Beratung auf deren InternetseitE www.hilfetelefon.de (hier finden Frauen auch Kontaktdaten zu regionalen Beratungsstellen)
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) bietet unter www.frauen-gegen-gewalt.de auch eine Bandbreite an Infos, u.a auch zu digitaler Gewalt oder bspw. Gewalt an Frauen mit Behinderungen (hier ist das Risiko, Gewalt zu erfahren, stark erhöht). Auch hier gibt es eine Datenbank mit regionalen Anlaufstellen. 
Unter www.wege-aus-der-gewalt.de gibt es viele Informationen für Frauen mit Behinderung. 


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