Endlich geht meine Rubrik „Let’s Talk Taboo” in die nächste Runde. Diese Rubrik habe ich ins Leben gerufen – um LeserInnen die Chance zu geben, über Themen zu reden, die sie nicht mal mit ihrer besten Freundin teilen. Die Idee dahinter ist, anderen LeserInnen nicht nur Einblicke in eine, für sie eventuell überhaupt nicht nachvollziehbare Gefühlswelt zu geben, sondern eventuell auch Menschen zu finden, die ähnliches durchgemacht haben oder empfinden. Denn Fakt ist: niemand ist alleine mit seinen/ihren Gedanken und Gefühlen, mit seiner/ihrer Geschichte. Auch, wenn es manchmal so scheint.
“Dein Herz ist unendlich groß. Die Liebe verdoppelt sich einfach, wenn Du noch ein weiteres Kind bekommst”. Solche Gefühlsbeschreibungen von Müttern mit mehreren Kindern hast Du sicher auch schon mal gehört, oder? Doch, ist das wirklich so? Liebt eine Mutter ihre Kinder zwar auf „ihre eigene“ Weise – aber gleich stark? Nein, dass MUSS nicht automatisch so sein – wie dieses offene und ehrliche Interview mit Helene (Name geändert) zeigt. Sie hat insgesamt vier Kinder – und eines dieser Kinder liebt sie weniger, als die anderen. In dem Interview beschreibt sie ehrlich ihre Gedanken und Gefühle -und wie sie versucht damit umzugehen.
Beschreibe kurz Deine Kinder: Was sind ihre guten und was ihre negativen Characktereigenschaften?
Mein ältester Sohn ist ein sehr sensibles, zartes Kind. Introvertiert und ruhig und mit einem sehr gutmütigen Wesen.
Die 8-jährige Tochter ist ein kleiner Wildfang. Willensstark und impulsiv, aber auch wissbegierig, intelligent und hilfsbereit. Sie will immer involviert sein.
Der 6-Jährige hat eine schwer einzuschätzende Persönlichkeit. Er ist Autist und gerade im Bereich Kommunikation ist er massiv eingeschränkt. Er kann nicht sprechen, auch nicht zeigen und er versteht auch kaum etwas von dem, was man zu ihm sagt.
Im Prinzip ist er ein fröhliches Kind, das natürlich wegen seiner Kommunikationsschwierigkeiten oft frustriert ist. Aber auch nicht in einem höheren Maß als andere Kinder in dem Alter.
Das kleinste Mädchen hat ein sehr sonniges Gemüt, ist aufgeweckt, unerschrocken und sehr aufmerksam.
Er hat sich nie angefühlt wie „meiner“. Mehr wie ein fremdes Kind, um das man sich eben kümmern sollte.
Helene, über die Gefühle zu ihrem jüngsten Sohn, Torben.
Welches dieser Kinder magst Du weniger?
Meinen 6-jährigen autistischen Sohn Torben.
Wann hast Du gemerkt, dass Du ein Kind nicht so liebst wie die anderen?
Eigentlich bereits während der Schwangerschaft. Sie war nicht geplant und meine Tochter war zu dem Zeitpunkt noch ein fürchterlich anstrengendes Kleinkind.
Es lief alles wie „nebenher“ ab. Die Geburt war für einen Kaiserschnitt (alle meine Kinder wurden so geboren) unkompliziert, mein Sohn war ein pflegeleichtes Baby.
Ich fand ihn immer süß, wie man Babys eben süß findet. Ich habe mich um ihn gekümmert, habe darauf geachtet, dass es ihm an nichts mangelt, aber er hat sich nie angefühlt wie „meiner“. Mehr wie ein fremdes Kind, um das man sich eben kümmern sollte oder wie ein kleiner Bruder.
Woran liegt das, dass Du dieses Kind weniger liebst?
Ich weiß es nicht. Da dieses Problem ja schon während der Schwangerschaft bestand, kann es ja nicht an seinem Autismus liegen.
Manchmal denke ich gar, er ist autistisch geworden, WEIL ich ihn weniger liebe. Aber mein rationaler Verstand sagt mir, dass das natürlich Blödsinn ist. Trotzdem lässt sich das schlechte Gewissen nicht ganz abschalten…
Hast Du das irgendjemandem mal erzählt bzw. Weiß Dein Partner davon?
Ja, mein Partner weiß es und eigentlich auch mein engster Vertrautenkreis. Ich habe mich auch der behandelnden Psychologin anvertraut, bei der mein Sohn wegen der Autismusdiagnose war.
Glaubst Du, Deine Kinder bzw. Dein Sohn spüren Deine Gefühle manchmal? Wenn ja:Warum, wenn nein: warum nicht?
Da er nicht kommunizieren kann und geistig stark beeinträchtigt ist, weiß ich nicht, wie viel er davon mitbekommt.
Ich versuche natürlich, ihn genau so lieb zu behandeln wie die anderen, aber ganz ehrlich gesagt gelingt mir das nicht wirklich. Ich schenke ihm einfach nicht die gleiche Aufmerksamkeit – und er fordert sie auch nicht ein, im Gegenteil, lehnt zu große Aufmerksamkeit eher ab, was mit seinem Autismus zusammenhängt. Das macht es mir natürlich nicht gerade einfach.
Glaubst Du, das jede Mutter/jeder Vater ein “Lieblingskind” hat?
Nicht unbedingt. Meine Beziehung zu all meinen Kindern ist unterschiedlich. Wenn ich ein absolutes Lieblingskind wählen müsste, wäre das vermutlich mein großer Sohn. Aber mit größerer Liebe hat das eher nichts zu tun. Ich fühle mich zu ihm wegen seiner sanftmütigen, zarten Art einfach näher. Das heißt aber nicht, dass ich zB. meine große Tochter weniger lieben würde, obwohl sie ganz anders ist, als ich es als Kind war. Ich bewundere sie für ihre Durchsetzungsfähigkeit. Und meine Babytochter vergöttere ich sowieso.
Nur von Torben kann ich sagen, dass ich ihn tatsächlich WENIGER liebe.
Plagen Dich Deine unterschiedlichen Gefühle zu Deinen Kindern? Versuchst Du etwas dagegen zu tun?
Es plagt mich schon. Ich würde ihn gerne gleich intensiv lieben wie die anderen Kinder. Ich bin eine sehr fürsorgliche Mutter, eine richtige Glucke manchmal.
Meine Kinder vermisse ich schon, wenn ich einmal etwas ohne sie unternehme, nur bei Torben macht es mir nichts aus. Ich will natürlich, dass es ihm gut geht, aber muss ihn nicht unbedingt um mich haben und bin froh, wenn er anderweitig beschäftigt ist. Mit dieser Einstellung schockiere ich mich selbst. So eine gleichgültige Mutter möchte ich eigentlich nicht sein.Ich möchte auf jeden Fall psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, um die Hintergründe besser durchleuchten und hoffentlich etwas ändern zu können. Ich WILL meinen Sohn lieben, aber auf Knopfdruck geht es leider nicht.
Hast Du das Gefühl, dass Du Deine Kinder gleich behandelst, oder ertappst Du Dich dabei, dass Du die anderen/das andere bevorzugst?
Oh, ganz gleich behandle ich sie nicht. Oft erwische ich mich tatsächlich dabei, dem Größten mehr Rechte einzuräumen. Ich gebe mir aber große Mühe, nicht ungerecht zu sein.
Dabei fällt mir schon auf, dass ich Torben oft für Dinge kritisiere, die mich bei den anderen Kindern nicht stören. Meine Nerven sind dünner, wenn es um ihn geht.