Ein Jahr nach der Flutkatastrophe im Ahrtal
Es ist fast ein Jahr her, dass die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 für die Bewohner des Ahrtals zum Albtraum wurde. Viele kamen ums Leben, verloren einen geliebten Menschen oder sahen alles, was sie sich über Jahrzehnte aufgebaut hatten, binnen Minuten in den Fluten versinken.
Auf diese beispiellose Katastrophe im Westen Deutschlands folgte eine ebenso beispiellose Solidarität mit den Flutopfern. Aus der ganzen Republik kamen Helfer:innen und schaufelten in sengender Sommerhitze tonnenweise meterhohen Schlamm aus den Häusern.
“Ohne die Hilfe der Freiwilligen hätten wir es nicht so weit geschafft”, erzählt mir Steffi. Mit ihr hatte ich wenige Tage nach der Katastrophe das erste Mal Kontakt. Seitdem telefonieren wir immer mal wieder und sie beschreibt mir eindrucksvoll das immer noch Unbegreifliche. Dass sich diese Jahrhundert-Katastrophe nun schon das erste Mal jährt, sei für sie ein befremdliches Gefühl:
“Das Jahr war unbegreiflich, der absolute Wahnsinn. Anfangs war da dieser riesige Tatendrang: Wir wollten alles aufräumen und unser Zuhause wieder aufbauen – doch irgendwann kam der Winter. Der war wirklich elendig lang, alles war so trostlos. Die Bautrockner liefen und ansonsten konnte man nichts tun. Da hatte man viel Zeit nachzudenken. Das war hart. Aktuell spüre ich aber schon wieder so etwas wie Aufbruch”, resümiert Steffi die Achterbahnfahrt ihrer Gefühle während der vergangenen Monate.
Endlich würden die ersten Anträge bei der ISB (Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz) bewilligt werden, langsam könne der Wiederaufbau beginnen.
Alltag im Ahrtal: Jahre entfernt von Normalität
Doch mit Normalität hat der Alltag im Ahrtal nichts zu tun.
Der gesamte Bereich am Ahrufer sei immer noch zerstört. Erst vor ein paar Wochen schaufelten Bagger den Schutt aus dem Wasser.
“Manchmal laufe ich durch das Dorf und muss überlegen: Wo verlief hier noch einmal die Straße?”, erzählt Steffi am Telefon.
Auch die Innenstadt sei nach wie vor komplett kaputt, die meisten Häuser noch vernagelt. Vereinzelt würden nun endlich neue Fenster eingesetzt werden, aber sonst befinde sich alles im Rohbau. Immerhin: Eine Bäckerei hat kürzlich wieder aufgemacht, zwei Kneipen können jetzt im Außenbereich bewirten. Gleichzeitig werden jedoch noch immer von der Flut unbewohnbar gemachte Häuser abgerissen.
Andere hatten bereits damit begonnen, ihre Häuser wieder aufzubauen: „Da wurde viel Geld von der Versicherung reingesteckt – und plötzlich dringt an einer Wand das Heizöl ein. Dann kommt der Gutachter, stellt fest, dass es sich um eine tragende Wand handelt und das Haus muss doch abgerissen werden…”
Die Langsamkeit, mit der Dinge vorangehen, sei frustrierend und mitunter schwer zu ertragen.
Vieles könne gar nicht wieder aufgebaut werden, solange es kein neues Hochwasserschutzkonzept gibt, das regeln soll, in welchen Uferregionen künftig wieder Menschen wohnen dürfen. “Erst jetzt wurde der Auftrag an ein Planungsbüro gegeben, das wiederum sagt nun: Wir brauchen anderthalb Jahre, um solch ein Konzept zu erarbeiten… aber die Leute im Ahrtal haben diese Zeit nicht. Wir brauchen Sicherheit und wollen endlich alles wieder aufbauen…”
“Anfangs wurde gesagt, dass uns unbürokratisch geholfen wird. Jetzt haben wir bald Jahrestag und in so vielen Häusern ist noch so wenig passiert. Natürlich hat es auch damit zu tun, dass die Zerstörung so groß war… aber trotzdem fragt man sich, was passiert wäre, wenn alles bürokratisch gelöst worden wäre.”
Gleiches gelte für die Spenden. Das komplizierte Spendenrecht erschwert bisher die Auszahlung von größeren Summen.
Oder bei Spendenkampagnen wie die des “Flutweins”, bei der über 200.000 Flaschen von 28 Ahr-Winzern verkauft wurden und fast 4,5 Millionen Euro Spenden zusammen kamen. Die betroffenen Winzer warten bisher vergeblich auf ihr Geld. Grund: Spenden dürfen zwar an Einzelpersonen, aber nicht an Unternehmen ausgezahlt werden. Auch hier sucht die Politik immer noch nach einer pragmatischen Lösung…
Die stockenden Auszahlungen, der Rückbau von Fluthilfezentren, usw. – unter den Betroffenen macht sich ein Jahr nach der Katastrophe Frust gegenüber der Regierung breit. Am ersten Juli-Wochenende demonstrierten rund 350 von ihnen in Mainz und forderten endlich schnelle und unbürokratische Unterstützung.
“Man hat das Gefühl: Je weniger berichtet wird, desto mehr ist die Geschichte aus den Köpfen der Politiker:innen. Dann passiert gar nichts.
Wir müssen uns immer wieder in die Erinnerung der Öffentlichkeit rufen. Denn hier ist nichts okay und das wird auch noch Jahre so sein”, beschreibt Steffi den Unmut vieler Menschen.
Und während sich auf bürokratischer Ebene kaum etwas zu bewegen scheint, schießen gleichzeitig die Preise für Baumaterialien in die Höhe: “Überhaupt an Material zu kommen ist schwer, dazu die Inflation… Im Aluminum- und Stahlsektor gab es eine Preissteigerung um 30 Prozent, bei Glas 18 Prozent”, sagt Steffi.
Da komme es häufiger vor, dass die im Herbst bei den Handwerksbetrieben eingeholten Angebote zwar endlich von der Versicherung bewilligt wurden – doch zu den damaligen Konditionen nicht mehr gelten.
“Das alles macht es für die Menschen hier nicht leichter.”
“Es ist hier nichts mehr so wie früher und es wird auch nie wieder so werden”
Diese Langsamkeit sei auch mit Blick auf die Kinder im Ahrtal frustrierend.
“Verlorene Jahre für die Kinder. Erst Corona – und jetzt das.”
Für die Kleinsten seien bereits fünf Spielplätze mit Hilfe von Spenden aufgebaut worden, aber für die etwas Älteren gebe es nichts. “Die haben keine Orte, wo sie sich aufhalten können. Wenigstens hat jetzt eine Eisdiele neu aufgemacht, dort können sie mal hinlaufen … aber sonst?!”, beschreibt Steffi den Alltag ihrer 11-jährigen Tochter.
Dabei gehe es ihnen ja noch gut, fügt sie schnell hinzu. Das Haus der gebürtigen Ahrweilerin ist von den Wassermassen verschont geblieben. “Ich kann das Fenster aufmachen und sehe grün: Bäume und Blätter.”
Doch auch ein knappes Jahr nach der Katastrophe überkomme sie immer wieder die Trauer. Vor allem, wenn sie durch das zerstörte Tal spazieren geht.
“Du weißt, wie es vorher ausgesehen hat, wie es direkt nach der Flut aussah – und siehst es jetzt…da gibt es Tage, an denen ich schwer schlucke und denke: Ich mag nicht mehr. Es ist hier nichts mehr so wie früher und es wird auch nie wieder so werden. Ich habe Heimweh. Heimweh nach dem, wie es vorher war. ”
Und trotz all der Zerstörung, der Trauer, des Verlustes und des Frustes: Die Menschen im Ahrtal machen weiter, stärken sich gegenseitig.
Vor ein paar Wochen hat wieder ein Schützenfest mit Trinkzug stattgefunden; viele kamen: “Es war ein schönes und emotionales Beisammensein. An solchen Momenten wird hier festgehalten. Wir geben nicht auf. Wir bauen das Tal wieder auf.”