Grausame Zwänge der Inklusion

Ich schlendere durch den Park. Es ist frisch draußen. Ich würde mich gerne in ein Café setzen, aber durch Corona hat alles dicht. Seit einer Stunde drehe ich hier Runde für Runde. Eine weitere Stunde werde ich noch durchhalten müssen, bis ich meinen neun Jahre alten Sohn abholen darf. Er hospitiert gerade auf der Kinderstation der hiesigen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sollte er sich eine Behandlung dort vorstellen können, wird es sein sechster Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung binnen dreier Jahre sein.
Die Diagnosen der unterschiedlichen Ärzt:innen, sie würden mittlerweile ein halbes Buch füllen:



Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Affekt- und Impulsregulationsstörung. Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung.
Ausgeprägtes Vermeidungs- und Verweigerungsverhalten. Autistische Symptomatiken.
Inzwischen: Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens. Autismus scheint unwahrscheinlich, kann aber nicht ausgeschlossen werden, da mein Sohn die Testung verweigert.
Die letzte Behandlung endete abrupt im Herbst letzten Jahres. Mein Sohn erlitt einen Meltdown (Anm. Ein Meltdown ist eine reflexartige und unkontrollierbare Handlung von Autisten. Dabei schreit oder schimpft der/die Betroffenem schlägt und boxt ums sich etc.).

Er schrie, tobte, griff zu einer Hängematte und schleuderte diese über seinem Kopf, um sich die Mitarbeiterinnen vom Hals zu halten. Das überforderte Personal der psychiatrischen Tagesklinik rief die Polizei zur Hilfe. Vier uniformierte Beamt*innen trugen meinen Sohn – zwei an den Armen, zwei an den Beinen – in einen fenster- und möbel…

13 Kommentare zu „Grausame Zwänge der Inklusion“

  1. Ein realistischer, klarer und wahrer Bericht. Als Erzieherin und Inklusionshilfe erlebe ich genau das im Alltag der zu betreuenden Kinder: Die Schule wirbt mit Inklusion, gelebter Gemeinsamkeit-leider gilt das tatsächlich nur für die „Regel“-Kinder. IN den Schulen findet man außer der I-Hilfe (wenn man Glück hat), so gut wie keine zusätzlichen Hilfen für die betroffenen Kinder. Sie sollen mit eingebunden werden, heißt es. Realität ist, dass diese Kinder unglaublich einsam sind, weil sie immer und überall anecken und auffallen und es an den Schulen weder Zeit noch Maßnahmen gibt, um therapeutisch zu unterstützen. Die im Moment stattfindende Inklusion in den Schulen ist für mich nicht mehr als ein leeres Wort und schadet vielen Kinder mehr, als dass sie sie den anderen Kindern näher bringt.

  2. Oh ich verstehe dich so gut. Ich habe zwei Söhne. Mein kleiner (13) hat ADHS, Hochbegabung und laut Diagnostik eine E&S Störung. Meiner Ansicht nach einfach nur die Unfähigkeit des Systems, Kinder mit ADHS und unfassbarer Energie in einer Klasse von 30 Kids zu beschulen. Unser Schulsystem ist sch… Kids müssen in Reih und Glied sitzen und das nachplappern, was die Lehrer sagen. Eigene Gedanken sind unangebracht. Abweichende Meinungen gelten als Störung. Wenn du in großen Klassen nicht glücklich bist, musst du auf die Förderschule. Ob du da als Hochbegabter sinnvoll untergebracht bist? Sichee nicht! Wir stehen vor der Entscheidung eine passende Beschulung zu finden, weil es der Regelschule zu kompliziert wird. Echt eine doofe Situation. Wir wollen unser Kindnicht in ein Internat o.ä. abschieben. Der Lösungsweg ist noch lang und kostet viel Kraft…

  3. Ich bin selbst nicht betroffen, aber total erschrocken über diese Schilderung. Wie kann es sein, dass Kindern, die sich sowieso überall falsch fühlen, in letzter Konsequenz ihre Familie, ihr sicherer Hafen genommen wird?! Das ist ein Grundschulkind, welch ein trauriger Wahnsinn. Schule ist für alle da – wo ist die 1:1-Betreuung, die ein echtes Miteinander möglich macht? Das ist unfassbar und gehört an die große Glocke!

  4. Es berührt mich, diese Zeilen zu lesen. Welche Herausforderung muss es sein, diesen Weg zu gehen! Ich wünsche der Mama und dem Kind alle Kraft und Zuversicht auf diesem Weg! Ich habe mal gelesen, dass es besetzte Seelen gibt, also Fremdenergien, die sich bei Seelen festsetzen. Vielleicht könnte das ein Ansatzpunkt sein, um die Belastung aufzulösen? Alles Gute & Liebe!

  5. Mich macht dieser Bericht auch sehr betroffen und es tut mir sehr leid. Unser Pflegekind leidet unter FASD und die Symptome sind ganz ähnlich. Und trotzdem hatten wir immer Glück und haben Menschen gefunden, die sich ganz wunderbar kümmern. Er hat dazu aber auch noch eine geistige Behinderung, so komisch das auch klingt, das macht einiges leichter, weil seine Möglichkeiten eben sowieso begrenzt sind. Er hat einen Heilpädagogischen Kindergarten besucht und ist jetzt auf einer Förderschule für geistige Entwicklung. Und die nehmen ihn so wie er ist, es komme keine Klagen, nur Erfolgsgeschichten. Wir drücken ihn in kein System, wir bauen einen kleinen Kosmos um ihn und damit entspannt es sich für alle, vor allem für ihn.
    Inklusion üben wir auf dem Hof, beim spielen mit den Nachbarn oder im dörflichen Sportverein. Das ist für alle anstrengend genug, aber da können wir jederzeit abbrechen. Anders geht es nicht und wir eigentlich ist es schade, Inklusion müsste anders laufen, aber für unser Kind möchte ich das nicht

  6. Deine Worte machen so unfassbar traurig und lassen mitfühlen. Es tut mir so leid was ihr durchmachen müsst. Unser Schulsystem ist einfach zu starr und wer nicht reinpasst hat ein Problem.
    Ich drücke ganz fest die Daumen, dass es noch zu einem für Euch guten Ende dieser furchtbaren Odyssee kommt.

  7. Das liest sich fast wie bei unserem Sohn, nur muss er erst nächstes Jahr in die Schule uns genau davor habe ich Angst, denn die Defizite in unserem Schulsystem kenne ich bereits und habe Angst was dann mit ihm passiert- er ist zu „normal“ für eine Einrichtung für geistig Behinderte aber zu speziell für die Regelschule… keiner fühlt sich zuständig nur spürt er bereits jetzt dass er überall aneckt. Was das mit ihm macht?! Zugleich spüre ich Druck ihn auch „normal“ haben zu wollen.. ein schreckliches Dilemma aus dem nichts Gutes kommen kann… wer hilft einem?

  8. Ersteinmal versetzt euer Beitrag mich in unsere akute aktuelle Situation. Es ist wirklich ein Armutszeugnis . Allerdings bin ich auf eine Einrichtung gestoßen in der ich nun 4 Wochen mit meinen Kindern war , eine Eltern Kind Station die wirklich unterstützt was soll ich sagen unser Alltag hat sich nur im positiven verändert.
    Ich kann es euch nur ans Herz legen ich war mit meinen beiden dort , beide als Kinder die nicht ins System passen . https://www.stiftung-liebenau.de/gesundheit/angebot/meckenbeuren/eltern-kind-station-kinder-und-jugendpsychatrie-2254/ .

  9. Claudia Raschert

    Es ist unendlich wichtig, dass diese Art von Lebens-Geschichten publik gemacht werden. Zwar ist meine Familie selber nicht betroffen, aber eine ganz liebe Freundin habe ich in den letzten 10 Jahren auf dem langen Weg der Inklusion mit ihrem autistischen Kind begleitet. Ich hoffe, dass die Mutter für ihr Kind und sich aus den vorherigen Kommentaren positive Anregungen holen kann und wünsche den beiden ganz viel Glück und weiteres Durchhaltevermögen!! Ich möchte nochmal aufgreifen, dass so häufig das “System” insbesondere das “Schulsystem” angesprochen wird. Persönlich habe ich das Gefühl, dass unendlich vielen Menschen klar ist, dass unser Schulsystem überdacht werden müsste. Sehr kluge und absolut kompetente Personen haben darüber schon unzählige Artikel und sogar Bücher geschrieben. Aber es ändert sich nicht wirklich etwas. Seit ca. 15 Jahren habe ich mit dem “Schulsystem” durch meine 3 Söhne zu tun und seit eingen Jahren beschäftige ich mich damit sehr intensiv und habe mich sogar nochmal an der Universität-Fakultät für Erziehungswissenschaften – eingeschrieben. Vor kurzem habe ich wieder eine Hausarbeit zum Thema “Inklusion” begleitet – aber immer wieder ist spürbar, dass diese Thematik viel stärker besprochen werden muß und Veränderungen gefordert werden sollten. Auf jeden Fall ist jeder Artikel zu diesem Thema Inklusion oder auch Schulsystem wichtig!

  10. Unverständnis, Tränen, Verzweiflung, Hoffnungslosikeit, Hilflosigkeit all das ist mir nur allzu bekannt.
    Mit 4 bekamen wir vom Kinderpsychologen der Klinki gesagt, unser Sohn ist geistig behindert er wird nicht schreiben, Rechten etc können, mit 6 einen Tag vor Weihnachten der körperbehinderte Kindergarten, das wird nix mit Ihrem Sohn….
    Heute ist er ein junger Mann, kann weder eine Wurzel ziehen (ich übrigens auch nicht, hat sich mir bis heute nicht erschlossen) , noch den Satz des Pytagoras oder irgendwelche Fachwörter richtig schreiben, er kann lesen und schreiben, er arbeitet als Gärtnergehilfe, er wäscht, kocht, putzt und ist der beste Sohn den man sich wünschen kann. Er hat Herz und Gefühle. Ach ja und er kann ein Handy einrichten, er kann seine Finanzen verwaltern, er überzieht kein Konto und er spart auf eine eigene Wohnung.
    Das kam heraus weil ich diesen Fachidioten keinen Glauben schenkte.

    Die Kraft die man für den ganzen Kram aufwenden muss, Therapien, Gutachten, Lehrer, Schule, Behörden, Bezahlung von Therapien, all das nimmt einem als Mutter die Kraft, einfach Mutter zu sein.
    Was uns persönlich sehr geholfen hat ist die klassische Homöopathie – da muss man leider sehr lange suchen, bis man da einen qualifizierten findet. Aber wir haben ihn gefunden.

    Und wir hatten Glück bei uns im Ort gab es eine Bauernhofschule mit kleinen Klassen nach Waldorfpädagokik. Zwar eine Privatschule die Kosten trugen wir selbst (dafür und div. Therapien zahlen wir übrigens heute noch ein Darlehen ab), aber besser als die staatliche Förderschule mit mehr als 15 Kindern in den Klassen. Was für ein Glück dass diese Schule bei uns im Ort ist.
    Inklusion muss besser werden, selbstverständlich und von sehr guter Qualität. Allerdings wenn damals schon die Inklusion gewesen wäre, bin ich mir sicher, dass unser Sohn nicht so weit gekommen wäre zumindest so wie diese der zeit funktioniert. Und ich bezweifel ob Inklusion immer das bessere ist. Kommt aufs Kind an. Gute Förderung, gute “Sonderschulen” mit entsprechend ausgebildeten Fachkräften und menschlichen Behördenkram
    Für den Arbeitsplatz unseres Sohnes waren insgesamt 7 Behördenstellen zuständig inkl. Schule.

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