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„Ich wurde dank künstlicher Befruchtung schwanger – und brachte meine Zwillinge in der 26. SSW auf die Welt“

Ein Text von Sarah Schulze

Der Weg zur eigenen Familie war für Nele und ihren Mann mit vielen Hürden und Schicksalsschlägen verbunden. Schon früh wussten die beiden, dass es aufgrund der familiären Vorgeschichte ihres Mannes sehr schwer werden würde, auf natürlichem Weg schwanger zu werden. Die Ärzte raten ihnen, direkt den Weg der künstlichen Befruchtung zu gehen.

Trotz schlechter Qualität des Spermienmaterials ist Neles Hoffnung groß, dass es bei einem Versuch bleiben würde – sie wird enttäuscht. Auch nach dem zweiten Versuch bleibt der Schwangerschaftstest negativ. Ihre damalige Ärztin rät ihr und ihrem Mann zu dem Zeitpunkt, über Fremdsperma oder Adoption nachzudenken. Der Fall ihres Mannes sei wohl äußerst selten; sie habe wenig Hoffnung, dass eine künstliche Befruchtung Erfolg habe. 

“Ganz gruselig” – so beschreibt Nele die Vorstellung, ein Kind mit fremden Sperma zu zeugen. Sie fällt in ein tiefes Loch, hat wenig Hoffnung, doch noch ein gemeinsames Baby mit ihrem Mann zu bekommen. Die beiden machen einen Cut, verordnen sich selbst eine Pause – ein dritter Versuch kommt erstmal nicht in Frage.

“Rückblickend war Abstand das beste”, sagt Nele. Und so starten sie einen erneuten Versuch, in einer neuen Klinik, mit neuen Ärzten. Und wieder ist das Spermienmaterial nicht gut, es würde wieder nicht leicht werden. Aber irgendetwas ist anders – Nele sagt, sie habe ein zuversichtliches Gefühl gehabt.

Und das täuscht sie nicht: Zwei Eizellen haben sich befruchten lassen. Der Schwangerschaftstest: Positiv. In der siebten Schwangerschaftswoche erfahren Nele und ihr Mann, dass sich nicht nur eine Eizelle eingenistet hat, sondern beide. Sie bekommen Zwillinge. Trotz extremer Übelkeit hat Nele eine unauffällige Schwangerschaft. 

In der 22. Woche ändert sich das Leben des Ehepaars schlagartig: An der Fruchtblase hatte sich ein Trichter gebildet, der Gebärmutterhals war verkürzt, der Muttermund leicht offen – Nele wurde sofort ins Krankenhaus überwiesen. Alleine, während Corona. Dadurch durfte sie ihr Mann nicht begleiten. Die Ärzte erklärten ihr ihre Optionen: Eine mit Risiko verbundene OP – oder zurück nach Hause und es drauf ankommen lassen. Sie entschied sich für die OP, denn gar nichts zu tun kam nicht in Frage.

“Diese Wochen waren die härtesten meines Lebens. Ich war ganz allein, mein Mann durfte gar nicht zu mir. Ich habe auf einmal die ganze Verantwortung gespürt, die allein auf mir lag. Ich war dafür verantwortlich, dass ich meinen Babys noch mehr Zeit in meinem Bauch verschaffe. Und immer war da die Sorge: Darf ich kurz zum Fenster gehen – oder gefährde ich meine Kinder dadurch? Platzt eventuell die Fruchtblase? Sie hätten doch kaum Überlebenschancen gehabt…”

Ihre Ängste werden wahr: Nach zwei Wochen bekommt die Fruchtblase Risse. Sie kann die Geburt noch eine weitere Woche hinauszögern, dann aber bekommt sie Wehen, die nicht mehr aufzuhalten sind. Und dann, endlich, darf ihr Mann kommen. “Da habe ich pure Freude und Panik zugleich gespürt.”

Die Zwillinge werden per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. In der 26. Schwangerschaftswoche, 590 und 680 Gramm schwer – gerade überlebensfähig. Die Neugeborenen werden sofort weggebracht, Nele habe sie nicht einmal schreien hören. “Man ist auf einmal Eltern, aber die Babies sind nicht da” – so beschreibt sie ihre ersten Momente als Mama.

Den beiden Kleinen geht es den Umständen entsprechend gut; sie konnten selbstständig atmen, brauchten “nur” eine Sauerstoffmaske. Neles Zwillinge holen die Entwicklung auf der Frühchenstation auf – nach drei Monaten dürfen sie endlich nach Hause. “Es ist der absolute Wahnsinn, was Frühchen in ihren ersten Lebenswochen leisten – und was die Medizin heutzutage alles kann”, sagt sie. Von Anfang an versucht sie, dem schweren und viel zu frühen Start ins Leben etwas Positives abzugewinnen: dadurch konnte ihr Mann die Kinder wenigstens früher begleiten.

[Triggerwarnung] Ich habe mich für einen Fetozid entschieden – FÜR mein Kind

Ein Text von Sarah Schulze

Der 30. Dezember ist ein doppelter Schicksalstag für Barbara. An diesem Tag hat sie ihre tote Tochter geboren – und erfuhr genau ein Jahr später von ihrem Sohn.

Vor sieben Jahren, da war Barbara 40, war sie zum ersten Mal schwanger. Ein absolutes Wunschkind. Sie und ihr Mann freuten sich riesig; ihr ging es in den ersten Wochen sehr gut – Schwangerschaftsübelkeit und Co. schienen an ihr vorbei gegangen zu sein. Dann – in der 22. Schwangerschaftswoche, erzählt sie – saß sie zur Kontrolluntersuchung bei ihrem Frauenarzt. Eine Kontrolluntersuchung, die ihr Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf stellen würde. 

Ihr Arzt stellte eine Auffälligkeit fest, überwies sie direkt weiter an einen Spezialisten, einen Pränataldiagnostiker. Dieser bestätigte, was ihr Arzt zuvor schon vermutet hatte: Ihr ungeborenes Mädchen hatte einen offenen Rücken. Die Ultraschalluntersuchung dauerte lange, knapp eine Stunde, erinnert sich Barbara. Und mit jeder Minute wurde der untersuchende Arzt stiller. 

“Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter nicht lebensfähig ist.” 

Dann spricht er die Worte, auf die sich Barbara schon eingestellt hatte – und die ihr den Boden unter den Füßen wegzogen: “Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter nicht lebensfähig ist.” 

Barbaras Ungeborenes litt an Trisomie 18, eine genetische Erkrankung, bei der das Chromosom 18 (oder Teile davon) dreifach statt zweifach vorhanden ist. Die Entwicklung des Kindes ist bereits im Mutterleib gestört – bei Barbaras Mädchen hat der Gendefekt einen offenen Rücken und andere schwere Fehlbildungen hervorgerufen.

Die Diagnose des Pränataldiagnostikers war eindeutig: “Ich rate Ihnen davon ab, die Schwangerschaft weiter auszuführen.” Denn: Nicht nur war ihre Tochter mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lebensfähig, auch Barbaras Gesundheit stand durch den Gendefekt auf dem Spiel. Dadurch war ihr schnell klar, welche Entscheidung sie fällen musste – was es nur noch schwerer machte. Sie würde die Schwangerschaft nicht weiter ausführen. Barbara ging es schlecht, sehr schlecht. “Der Gedanke war so abschreckend, aber es war eine Entscheidung FÜR mein Kind”, sagt sie mit leise, aber mit fester Stimme. 

Da sie bereits in der 22. Woche war, konnte kein Arzt im Umkreis den sogenannten Fetozid (Tötung des Kindes im Mutterleib, Anm. d. Red.) durchführen. Am Ende bekam sie einen Termin in einer über 70 Kilometer entfernten Klinik – vier Wochen später. Diese vier Wochen, sagt Barbara, waren die furchtbarsten ihres Lebens. Noch heute versteht sie nicht, dass eine schwangere Frau, die einen Fetozid durchführen lassen muss, nicht nur weit fahren, sondern auch noch vier kräftezehrende Wochen – in denen ihr Bauch weiter gewachsen ist – auf einen Termin warten muss.

Eine Kellnerin beglückwünschte sie zur Schwangerschaft

Durch ihren Beruf als Erzieherin hatte sie bereits Beschäftigungsverbot – und so zog sie sich immer mehr zurück, wollte nicht raus, mit niemandem sprechen. Nur einmal, da waren sie und ihr Mann essen. Und der Restaurantbesuch hallt bis heute nach. Es passierte genau das, wovor Barbara sich so fürchtete: Die Kellnerin zeigte auf Barbaras runden Bauch und beglückwünschte sie zur Schwangerschaft: “Wann ist es denn so weit?“ fragte sie…

Als sie mit mir über die schlimmen Stunden des Fetozids spricht, strahlt Barbara eine bewundernswerte Ruhe aus. Es ist der 30. Dezember. Sie erinnert sich noch genau daran, dass die Ärztin, ihrem Anschein nach noch in der Ausbildung, die Spritze für den Fetozid mehrfach ansetzen musste, immer wieder von dem leitenden Arzt korrigiert wurde. Eine nervliche Zerreißprobe für Barbara – auch heute hat sie wenig Verständnis für diesen Umgang mit ihr in der schwersten Stunde ihres Lebens. Anschließend brachte sie ihre Tochter auf natürlichem Weg auf die Welt. Sie nannte sie Maria, nach ihrer Oma.

Barbara erzählt, dass sie unter der Geburt und kurz danach durch starke Schmerzmittel körperlich wie betäubt war. Das wollte sie so: “Ich konnte meinen seelischen Schmerzen nicht aushalten – dagegen gibt es keine Schmerzmittel. Dann wollte ich wenigstens den körperlichen Schmerz betäuben.” Die ganze Prozedur ging so schnell von statten, dass sich Barbara von ihrer Tochter nicht einmal verabschieden kann. 

“Ich denke mit so viel Liebe an diese letzten Momente zurück. Da bin ich Mutter geworden.”

Als sie am nächsten Tag, am Neujahrstag, zu Hause ankommt, bricht sie zusammen. “Mein Mann tat das einzig Richtige in dieser Situation. Er hat mich ins Auto gesetzt und wir sind gemeinsam wieder in die Klinik gefahren.” Dort angekommen, ermöglichten ihr die Diensthabenden Pfleger:innen das größte Neujahrsgeschenk: Sie durfte sich von ihrer Tochter verabschieden. Eineinhalb Stunden saß sie mit Maria alleine in einem Raum, wog sie in ihren Armen, sang ihr Lieder vor, eine Krankenschwester machte ein Erinnerungsfoto. 

So tragisch diese Stunden auch waren, so schön war der Abschied, erzählt Barbara mit ruhiger Stimme. Ich höre über das Telefon, dass sie lächelt – und gleichzeitig weint. “Ich denke mit so viel Liebe an diese letzten Momente zurück. Da bin ich Mutter geworden.”

Der Abschied hat ihr geholfen, die Erfahrungen – gemeinsam mit einer Seelsorgerin – zu verarbeiten. Und genau ein Jahr später, am 30. Dezember, machte sich Marias Bruder auf den Weg zu Barbara und ihrem Mann. Neun Monate später brachte sie den kleinen Theo gesund auf die Welt.

Barbara glaubt, dass die Themen Fetozid, stille Geburt und Sternenkinder vor allem gesellschaftliche Tabuthemen seien: Nicht Betroffenen würde es schwer fallen, mit Betroffenen darüber zu sprechen. Deswegen klärt Barbara in ihrer Heimatgemeinde auf, hält hin und wieder Vorträge über ihre Geschichte – um anderen Menschen Mut zu machen. Sie selbst sei durch ihre Erfahrungen sehr vorsichtig im Umgang mit Schwangeren geworden, hält sich mit Glückwünschen und aufgeregten Fragen zurück. Denn sie weiß, wie viel Schmerz eine gut gemeinte Frage zum Ungeborenen verursachen kann.

Infokasten:

Bei einem Fetozid wird das ungeborene Kind im Mutterleib getötet. Dabei durchsticht die Ärztin oder der Arzt mit einer Nadel die Bauchdecke der Mutter bis zur Bauchhöhle. Anschließend spricht er in das Herz oder die Nabelschnurvene des Kindes eine Kaliumchloridlösung, die zu einem sofortigen Herzstillstand und somit zum Tod des Kindes führt. 

Diese Prozedur wird nur in absoluten Ausnahmefällen durchgeführt: Wenn absehbar Ist, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren stark gefährdet, kann das eine medizinische Indikation für einen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche darstellen. Das Gesetz knüpft die medizinische Indikation jedoch an bestimmte, strenge Voraussetzungen. 

(Quelle: familienplanung.de/Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)

News on Instagram: FRIDAY FEELINGS

Ich bin seit 6 Jahren Mama. In 4 Jahren habe ich drei gesunde und wundervolle Kinder geboren. Und wenn ich gefragt werde, wie das so ist – ringe ich nach den richtigen Worten. Dieses Mama-Gefühl, dieser Mix aus unendlicher Liebe und gleichzeitig unendlicher Müdigkeit – der ist unbeschreiblich.
Ich blicke auf die Fotos von vor zwei oder vier Jahren und sehe eine Frau – mal hochschwanger oder mit Neugeborenen im Arm – und an ihrer Seite erst ein, dann zwei Mädchen und ich ertappe mich wie ich denke: Puh. Das muss doch auch ganz schön anstrengend sein.

Und das war es auch. Denn neben diesen kleinen, zarten, schönen Momenten funktionierte ich rund um die Uhr. Ich wurde gebraucht. 24/7. All die kleinen und größeren Meilensteine, all die durchwachten Nächte, weil ein Zahn durchbrechen will, weil das Baby die Nähe braucht, weil das Kind krank ist.
Wenn das Kleinkind gerade erst laufen kann und Du es nicht eine Sekunde aus den Augen lassen darfst. Oder das fast Zweijährige, das einfach keinen Bock hat im Auto zu sitzen und deshalb schreit, nur schreeeeeeit und dabei die Hirsekringel in der Hand zerbröselt und auf den Boden schmeißt, vor lauter Wut.

In diesen Momenten, in diesen Phasen funktionierst Du als Mama einfach nur. Denn für alles andere reicht Dir Deine Energie nicht mehr.

Meine Kinder sind immer noch klein. Sie brauchen mich immer noch. Doch in den letzten Tagen spüre ich, dass wir gerade am Ende dieser ersten krassen Phase sind. Wenn wir im Cafe sitzen, sind es die anderen, die draußen auf und ab gehen, um das schreiende Kleine zu beruhigen. Andere sagen: “Ich will einfach nur mal drei Stunden am Stück schlafen”. Und ich bin die, die ruhig antwortet: “Das wird ganz bald besser.”

Ich sehe meine kleine Große, die fast schon 6 ½ ist. Sie ist zu groß, um sie auf dem Arm die Straße entlang zu tragen, sie hat Humor und erzählt tolle Geschichten. Oder sie sagt: “Papa, Du hast das heute richtig gut gemacht” und “Mama, danke, dass Du an meine Erzieher gedacht hast und ihnen Sonnenblumen gekauft hast” und sagt “Kleiner Bruder, ich zeig Dir, wie es geht”.

Beim Kita-Abschied gestern hatte sie, genau wie ihre Eltern, Tränen in den Augen, als jedes Kind zu ihr kam und ihr einen Wunsch für den nächsten großen Lebensabschnitt mitgab: “Ich wünsche Dir einen Schutzengel”. “Ich wünsche Dir eine Blume”. “Ich wünsche Dir Kraft”. “Ich wünsche Dir Freunde”.

“Wie fühlst Du Dich?” frage ich sie auf dem Nachhauseweg. “Ich bin glücklich und auch ein bisschen traurig”, antwortet das hoppsende Mädchen an meiner Hand.

Und das erste Mal in den vergangenen 6 Jahren habe ich Luft und Energie einen bittersüßen Meilenstein bewusst wahrzunehmen und zuzulassen.
Ich drücke ihre Hand fest und schlucke den Kloß in meinem Hals runter.
“Ich auch”, sage ich.

Eine Pandemie, eine Familie, vier Geschichten

Ein Text von Lea Schings

Die Beziehung zwischen meinen Geschwistern und mir ist eng. Ich habe zwei Brüder und eine Schwester, wir alle sind an verschiedenen Lebenspunkten. Ich bin 23, vor fast 5 Jahren ausgezogen und studiere im Master in Hamburg, mein Bruder, 20, macht in unserer Heimatstadt eine Ausbildung, meine Schwester, 17, macht in diesem Jahr ihr Abitur und der Kleinste, unser Nachzügler kommt dieses Jahr auf die weiterführende Schule. Wir sind an ganz verschiedenen Punkten in unserem Leben und doch wurde unser Alltag im letzten Jahr von ein und derselben Sache stark beeinflusst, der Coronapandemie. Diese Pandemie hat uns alle Lebenserfahrungen gekostet und uns verändert. Ich habe mit meinen Geschwistern über das letzte Jahr gesprochen.

Als ich meine Schwester anrufe, ist sie gerade von ihrem Nebenjob zurückgekommen. Sie arbeitet in einem Corona-Testzentrum, seit Anfang Mai, gleich nachdem sie ihre schriftlichen Abiturprüfungen hinter sich gebracht hatte, hat sie dort angefangen. Noch ist sie 17, sie darf nur zwei Stunden am Tag arbeiten, doch sie verdient gut. Von dem verdienten Geld möchte sie diesen Sommer in den Urlaub fahren. Mit ihren Mädels, vielleicht mit ihrem Freund. Die beiden sind im Sommer ein Jahr zusammen. Auf die Frage, wie für sie das letzte Jahr war, sagt sie „vor allem anders“. Sie denkt gern zurück an den letzten Sommer und Herbst, als alles wieder lockerer wurde und sie coole Erfahrungen mit ihren Freunden machen durfte. Sie musste sich aber auch viel einschränken. Ich weiß, dass ihr letztes Schuljahr ganz anders war als meins damals. Doch sie scheint sich mittlerweile damit arrangiert zu haben, ist froh, dass die Schule jetzt vorbei ist und sie nicht mehr 8 Stunden am Tag eine Maske auf hat, dass sie ohne Zwischenfälle durch die Vorabi- und Abiprüfungen gekommen ist. Das war allerdings nicht immer so einfach.
Von meiner Mutter weiß ich, dass meine Schwester in den ersten Monaten der Pandemie auch viele schlechte Phasen hatte.

Das mit der Schule, das war vor allem im ersten Lockdown nicht einfach. Es hat gedauert, bis alle Lehrer sich mit den Wundern der Technik vertraut gemacht hatten, bis man wieder ansatzweise so etwas wie Unterricht hatte. Bis kurz vor den Sommerferien waren sie im Homeschooling, ihre Stufe die erste, die wieder zur Schule gehen durfte. Die Abiturientia hat Priorität. Die Sommerferien nutzt meine Schwester so gut es geht, fährt mit einer ihrer Freundesgruppen in einen benachbarten Ort zum Campen, verbringt dort Zeit an einem See in der Sonne.
Im Winter kam der nächste Lockdown und bis April hat sie sich nur mit ihrem Freund und einer Freundin getroffen. Ihre Freundinnen haben die ein oder andere Coronaparty gefeiert, meine Schwester war eingeladen, doch sie ist zu keiner einzigen hingegangen. Im April dann hat sie sich auf Abstand mit ein paar Freunden an einem Lagerfeuer getroffen. Als ich sie frage, was sie am meisten vermisst, antwortet sie genau das. Zeit mit Freunden verbringen, in größeren Gruppen. Sich nicht entscheiden zu müssen, sondern mehrere Menschen sehen, Freundesgruppen mischen, unbeschwert beisammen sein. Gemeinsame Zeit genießen mit Leuten, die man lange nicht gesehen hat, mit Leuten, die nach dem Abitur die Stadt verlassen werden.

Viele Erfahrungen bleiben meiner Schwester verwehrt. Ihre letzte Schulwoche fühlte sich an wie jede andere auch, sie wird keinen Abiball haben, die 18. Geburtstage ihrer Freunde nicht so feiern, wie ich es kenne.

Ihr Abitur selbst ist bis jetzt Gott sei Dank glimpflich über die Bühne gegangen. In den Wochen vor den Osterferien wurde die Abiturientia zweimal wöchentlich getestet, außerdem vor jeder Vorabiklausur. Kurz vor den Abiturprüfungen gab es dann einen Coronafall in ihrer Stufe. 25 Personen mussten in Quarantäne und hätten eine Prüfung nicht mitschreiben können, doch die Schule hat gut reagiert, hat einen Alternativtermin zur Verfügung gestellt und negativ getesteten Personen erlaubt, die Quarantäne für die Prüfung zu verlassen. Generell galt: Wer sich nicht testen lassen möchte, schreibt in einem separaten Raum und nicht mit den anderen Schüler:innen.

Jetzt folgt nur noch die mündliche Prüfung Anfang Juni, dann hat meine Schwester frei, bis sie im Oktober ihre Ausbildung zur Krankenschwester beginnt. Sie hofft auf einen lockeren Sommer, ähnlich dem letzten, sodass sie die letzte gemeinsame Zeit mit ihren Freundesgruppen in voller Besetzung genießen kann.

„Glaubst du, das letzte Jahr hat dich nachhaltig beeinflusst?“ „Ja“, sagt sie, „Ich glaube, ich bin selbstständiger geworden. Das kann natürlich auch mit dem Alter zusammenhängen, aber der veränderte Schulalltag hat schon zu mehr Selbstständigkeit geführt“. Beim Homeschooling muss man an vielen Stellen alleine klarkommen, viel mehr als vorher in der Schule.

Viele Erfahrungen bleiben meiner Schwester verwehrt. Ihre letzte Schulwoche fühlte sich an wie jede andere auch, sie wird keinen Abiball haben, die 18. Geburtstage ihrer Freunde nicht so feiern, wie ich es kenne. Trotzdem ist sie positiv gestimmt. Offensichtlich hat sie die Pandemie auch gelehrt, das Beste aus Dingen zu machen.

Mein Bruder, 20, Auszubildender

Meinen Bruder erwische ich an einem Homeschooling-Tag. Er macht seit August 2020 eine kaufmännische Ausbildung und ist seit Januar im Homeoffice. Dort bleibt er voraussichtlich auch bis nächsten August, so lange ist er noch in seiner aktuellen Abteilung. Seine Firma hat von Corona profitiert, man hat 43% mehr Umsatz gemacht, neue Abteilungen sind hinzugekommen. Die anderen Azubis hat mein Bruder nur am Anfang einmal gesehen, seitdem nicht mehr und auch ansonsten hat er gerade mit seinen Kollegen wenig zu tun. Er sieht sie in Online-Gruppenmeetings, wenn er eine Frage hat oder eine neue Aufgabe bekommt, ansonsten macht er sein eigenes Ding. Er sitzt monatelang Tag ein, Tag aus vor dem Bildschirm, zwischenzeitlich ist auch der schulische Teil der Ausbildung ins Homeschooling verlagert. Gesellschaft leistet ihm seine Freundin, mit der er seit August zusammenwohnt und jedes Wochenende gibt es ein großes Familiendinner bei meinen Eltern, ansonsten sieht er niemanden, trifft monatelang keinen einzigen Freund. Die fehlende Abwechslung macht ihm zu schaffen.

Er erzählt, dass, wenn er das Leben, wie er es die letzten Monate führen musste, die nächsten 10 Jahre weiterführen müsste, würde er dieses Leben nicht wollen.

Als ich ihn frage, was er am meisten vermisst, rechne ich damit, dass er das Feiern, seine Freunde oder Partys antwortet. Stattdessen sagt er: „Die Perspektive.“ Seine Antwort überrascht mich, doch als er mehr erzählt, davon, wie schwer die letzten Monate für ihn waren, dass ihn die Nachrichten nur noch deprimiert haben, dass nichts mehr einen Sinn gemacht hat, wie wenig Hoffnung er hatte. Mir wird klar, dass ich nicht so viel mitbekommen habe, wie ich dachte. Ich habe vor allem wahrgenommen, dass er sich immer so gut wie möglich beschäftigt gehalten hat, er hat sich via Ebay Kleinanzeigen Fitnessgeräte zusammengekauft und sein Training durchgezogen, Ausflüge mit seiner Freundin unternommen.
Auch meine Mutter, mit der ich kurz darüber gesprochen habe, hat das so empfunden. Er habe sich von uns 4 Kindern am besten in die Regeln eingefügt, ist seinen Weg vermeintlich ohne große Krisen gegangen. In ihm drin jedoch scheint es ganz anders ausgesehen zu haben. Er erzählt, dass, wenn er das Leben, wie er es die letzten Monate führen musste, mit Homeoffice und Homeschooling und keinen Kontakten zur Außenwelt, die nächsten 10 Jahre weiterführen müsste, würde er dieses Leben nicht wollen. Eine heftige Aussage.

Mittlerweile geht es ihm besser. Er darf wieder im Wechselunterricht zur Schule, das hilft ihm und „Präsenzunterricht liegt mir eh besser“. Hauptsache, er kommt mal raus und kann Leute sehen, dann stört ihn auch das Homeoffice nicht allzu sehr. Die vorangehende Impfkampagne gibt ihm Hoffnung und er hat mit seiner Freundin vor ein paar Tagen den Sommerurlaub in Spanien gebucht. Das letzte Jahr hat ihn nachdenklicher gemacht, vielleicht etwas negativer in seiner Einstellung, vielleicht ändert sich das aber auch wieder, meint er. „Ich denke, ich werde es mehr schätzen, wenn man wieder die Sachen machen kann, die vorher selbstverständlich waren“, sagt er und ich wünsche mir sehr für ihn, dass dieser Zeitpunkt, an dem man wieder ein normales Leben führen kann, möglichst bald kommt.

Mein kleiner Bruder, 10, Schüler

Als ich mit dem Kleinsten telefoniere, erwarte ich eigentlich vor allem die Antworten „Ja“, „Nein“ und „Vielleicht“. Er ist nicht so gesprächig, unser Nesthäkchen, besonders nicht am Telefon. Doch er ist erstaunlich redefreudig, erzählt direkt zu Anfang, dass er sehr froh ist, im letzten Jahr einen neuen Freund gefunden zu haben, seinen jetzt besten Freund, der im letzten Sommer in seine Klasse gekommen ist. Er hat, ähnlich wie wir alle in den letzten Monaten, sehr wenig Kontakte zu Freunden gehabt, mit seinem besten Freund hat er sich letztens draußen zum Fußballspielen getroffen, das fand er toll. Dass die Pandemie so lange dauert, findet er blöd, doch er kommt erstaunlich gut mit den fehlenden Sozialkontakten zurecht. Andererseits hat er eine große Familie, vielleicht hilft das ja zu einem gewissen Grad.

Es hilft vor allem mit Blick auf die Schule, denn auch der Kleinste wird nach den Sommerferien auf das Gymnasium gehen, auf dem wir anderen alle waren. Er hat sehr gehofft auf diese Schule zu kommen, erzählt er, weil er die Schule schon kennt, weil er sich so etwas sicherer fühlt bei einem Umbruch, der in der aktuellen Zeit noch gruseliger scheint als sowieso schon. Sein letztes Schuljahr auf der Grundschule hat er in großen Teilen im Homeschooling verbracht, eine zeitlang hat er nur die Grundfächer gehabt und die Aufgaben, die sie zuhause erledigen sollen, haben ihn an vielen Stellen unterfordert. Er befürchtet weniger gelernt zu haben und das gerade jetzt, wo er doch auf die weiterführende Schule kommt, die höhere Ansprüche stellt. „Wir haben weniger Aufgaben gehabt und Themen übersprungen“ erzählt er und gibt zu, Angst zu haben, dass er etwas nicht kann, was am Gymnasium vorausgesetzt wird, was aber in seiner Grundschulzeit wegen Corona nicht behandelt wurde. Seit ein paar Wochen geht er wieder im Wechselunterricht in die Schule. Bevor er die Schule betritt, muss er sich unter Aufsicht der Klassenlehrerin selbst testen. Bis vor kurzem mit einem Stäbchen in der Nase, mittlerweile hat die Schule nach Vorgabe des Schulministeriums den Lolli-Test eingeführt. Er kann mir genau herunterbeten, wie der Ablauf ist, er findet gut, dass getestet wird, sagt er.

Corona hat mir meine Kindheit gestohlen

sagt Leas Bruder, 10 Jahre alt

Mein kleiner Bruder ist erst 10, doch er bekommt schon erstaunlich viel mit. Egal ob das Radio oder der Fernseher läuft, er saugt alle Nachrichten auf. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, wie sich alles durch die Pandemie verändert hat, dass er glaubt, sich erstmal wieder dran gewöhnen zu müssen, wenn alles wieder normal wird. Gegenüber meiner Mutter hat er letztens den Satz geäußert: „Corona hat mir meine Kindheit gestohlen.“ Der Satz klingt hart, überspitzt, trägt aber viel Wahrheit in sich. Mein kleiner Babybruder ist erwachsener geworden. Erwachsener als man in diesem Alter sein wollte. Alle meine Geschwister sind erwachsener geworden.

Ich, Lea, 23, Studentin

Ob ich selbst erwachsener geworden bin, weiß ich nicht… Ich denke eher nicht, aber ich lebe auch schon seit 4 Jahren allein, das ist genug Zeit, um eine gewisse Selbstständigkeit zu entwickeln. Im Gegensatz zu meiner Schwester konnte ich den ersten Lockdown sogar halbwegs genießen, das Onlinesemester war gut organisiert und ich habe an keiner Stelle Wissen eingebüßt, außerdem saß ich mit meinem Freund in seiner frisch bezogenen Wohnung in Berlin und die Zeit war eher aufregend und neu, als beängstigend. Gerade am Anfang haben mich alle Nachrichten wahnsinnig interessiert, als Journalistik-Studentin wohl eine Art Berufskrankheit. Doch wie bei dem älteren meiner Brüder, waren auch für mich die letzten Monate sehr hart. Mein Studium neigt sich dem Ende zu und das Unwissen darüber, wo ich am Ende dieses Jahres stehen werde, machte die Perspektivlosigkeit in Bezug auf Corona in den letzten Monaten umso schwerer. In der dunkleren Jahreszeit hatte ich so meine Schwierigkeiten, die sich jedoch jetzt, mit einem besseren Überblick über die nächsten Schritte in meinem Leben und mehr Sonnenschein, etwas gelegt haben. Auch mir wurden Sachen verwehrt, die noch frischen Freundschaften aus dem Studium sind in großen Teilen im Sand verlaufen und doch habe ich das Gefühl, weniger eingebüßt zu haben als meine Geschwister, weil ihnen vieles verwehrt blieb, was mir vergönnt war. Ich hatte eine aufregende letzte Schulwoche, einen tollen Abiball. Ich hatte einen spannenden Studienstart, konnte alle Vorteile des frisch-ausgezogen-seins genießen. Ich konnte Kind sein.

„Wir alle haben uns brav an die Regeln gehalten, haben alle lange niemanden getroffen“

Alle meine Geschwister sind erwachsener geworden. Das stellt auch meine Mutter fest. Bei meiner Schwester hat sie die anfänglichen schlechten Phasen mitbekommen, erlebt, wie der erste Freund meine Schwester aufgefangen hat und sie die Negativität weitestgehend hinter sich lassen konnte und sieht, wie gefestigt und klar sie nun ist. Mein älterer Bruder hat sie überrascht, sie hätte mit mehr Aufbegehren gerechnet, doch er hat sich erstaunlich brav in sein Schicksal gefügt, alle Regeln akzeptiert und ist seinen Weg gegangen. Wir alle haben uns brav an die Regeln gehalten, haben alle lange niemanden getroffen. Dem Kleinsten wurden wohl die relevantesten Sachen genommen: Corona hat die unbeschwerte Zeit seiner Kindheit verkürzt. Auch bei mir merkt sie, dass mir Corona zu schaffen macht, dass es mir zu schaffen macht, dass mein Master so zerschossen wurde und nicht die tolle Zeit war, die ich mir so gewünscht habe, sagt sie.

Wir vier Geschwister sind an unterschiedlichen Punkten in unserem Leben. Wir vier gehen mit unseren Erfahrungen unterschiedlich um. Doch wir alle vier haben uns durch die Coronapandemie verändert, sind nachdenklicher, erwachsener geworden, haben mental unter den Verlusten gelitten. Man kann das letzte Jahr nicht rückgängig machen, man kann nur seine Erfahrungen reflektieren und nach vorne schauen, die Leichtigkeit wiederfinden, die in den letzten Monaten abhanden gekommen ist. Und ich hoffe, dass wir genau das tun, reflektieren, nach vorne schauen und das Negative in der Vergangenheit zurücklassen, weiter gehen, mit dem Gesicht der Sonne entgegen.

„Ich weiß bis heute nicht, was ein härterer Schlag für mich war: die Schläge von meinem Ex oder die Worte meiner Mutter“

„Ich hatte vor wenigen Jahren einen Partner, mit dem ich gerade im Inbegriff war zusammenzuziehen. Seit wir den Mietvertrag unterzeichnet hatten, hatte ich zunehmend ein mulmiges Gefühl, dass er mir fremdgehen würde. Und dann gab es mehrere eindeutige Anzeichen, sodass ich die Beziehung beendet habe und mich aus dem Mietvertrag rausnehmen lassen habe. 

Ein halbes Jahr lang ist er mir hinterhergerannt. Hat mir gesagt wie sehr er mich liebt und nur mich will. Für mich war das Thema abgehakt. Eines nachts bekam ich einen Anruf: er hatte einen traumatischen Autounfall und dürfte nach Hause, wenn er über das Wochenende Tag und Nacht unter Betreuung ist. Da er nur wenige Kontakte in der Stadt hat habe ich mich trotz allem was geschehen war dazu bereit erklärt. Doofe Idee… 

Als ich nachts schlief hat er mein Handy genommen und mit meinem Finger das Handy entsperrt. Alle Bilder und SocialMedia Profile, WhatsApp und Mails durchforstet. Die ganze Nacht durch. 

Da wir ja seit einem halben Jahr auseinander waren, habe ich auch schon angefangen mit anderen Männern zu schreiben um mich etwas abzulenken. All das las er.  

Und dann geschah etwas – und ich weiß bis heute nicht, was ein härterer Schlag für mich war: die Schläge von meinem Ex oder die Worte meiner Mutter: er habe mit Sicherheit begründet gehandelt. 

Als ich aufwachte, begann der Psychoterror:

Er will mich rausschmeißen, ich will gehen, er sperrt mich ein- das lief eine ganze Weile so hin und her… dann schien es mir, als wolle er Herr der Situation sein und Macht demonstrieren: er drückte meine Arme so fest, dass sie grün und blau waren,warf mich auf den Boden, würgte mich, kratzte und schlug mich. Er wollte vor allem eins: mich brechen. 

Aber ich stand immer wieder auf und schrie so laut ich konnte. Irgendwann schaffte ich es mich zu befreien und wollte ohne meine Sachen aus der Tür flüchten – da schmiss er meine Schuhe gegen meinen Kopf und beschimpfte mich lautstark – während die Nachbarn uns beobachteten – und nichts taten.

Ich war völlig überfordert, wusste nicht wohin, weil ich mich tatsächlich geschämt habe und dachte ich habe etwas falsch gemacht. Habe mich dann aber nach einem kurzen Moment doch einer Freundin anvertraut, die zu mir kam und mich ermutigte, mit meiner Familie darüber zu sprechen. 

Und dann geschah etwas – und ich weiß bis heute nicht, was ein härterer Schlag für mich war: die Schläge von meinem Ex oder die Worte meiner Mutter: er habe mit Sicherheit begründet gehandelt. 

Meine Freunde hingegen haben mich gestärkt und konnten nicht verstehen, dass ich ihn nicht anzeigen wollte.  Hierzu muss ich sagen, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe. 

Ich war auch beim Hausarzt um die Wunden dokumentieren zu lassen.
Der meinte jedoch, dass ich mir das gut überlegen sollte,schließlich würde ich mit so einer Anzeige das Leben eines Menschen zerstören. Ich solle abwägen, ob es eine einmalige Sache oder ein wiederholtes Vergehen wäre.

Ich muss sagen, das schlimmste ist wirklich, dass man immer wieder auf so Menschen stößt. „Die Frau ist dumm, weil sie sowas über sich ergehen lässt.“ „Die hat das bestimmt auch verdient.“ „Mit mir könnte sowas keiner machen“…. und jaaaa, mit mir auch nicht! Aber danke, dass ich mich schlecht fühlen muss, weil ich zum Opfer geworden bin. 

Das Ende der Geschichte ist, dass ich mehr als zwei Jahre lang unter Angstzuständen litt. Ich hatte immer Angst ihn irgendwo zufällig zu sehen. Wenn ich zuhause war und draußen Geräusche gehört habe, hatte ich immer Panik bekommen er könnte vor der Türe stehen. Als ich einen neuen Partner hatte, durfte er mich in Streitmomenten nie berühren, weil ich es sofort fehlinterpretiert habe und Panik bekommen habe. 

Das alles – es war nur ein einziger Morgen, an dem ich sowas durchlebt habe – und trotzdem hatte ich so lange damit zu kämpfen. Unvorstellbar, was Frauen durchleben, die sich in solch einer Gewaltbeziehung befinden und keinen Ausweg finden.“

„Viele verbinden ihr erstes Mal mit einer schönen Erinnerung, ich verbinde es mit einem düsteren Abend in meiner Jugend.“

“Ich bin 25 Jahre alt und mit 15 Jahren vergewaltigt worden. Die meisten denken bei dem Thema an die typische körperliche Gewalt, das war es in diesem Fall aber nicht. Es war nicht die typische Vergewaltigung. Ich habe fast keinerlei Erinnerungen mehr, nur noch Bruchstücke. Viele verbinden ihr erstes Mal mit einer schönen Erinnerung, ich verbinde es mit einem düsteren Abend in meiner Jugend. Ich habe damals irgendwelche neuartigen Tropfen verabreicht bekommen, eine Art von KO-Tropfen, die einen – für Außenstehende – betrunken und völlig willenlos machen. Das Fatale: ich war aber nicht betrunken. 

Es war Samstagabend, das letzte Wochenende vor den Sommerferien, der örtliche Fußballverein hatte Jubiläum. Dort angekommen, stand eine Gruppe junger Männer an einem Stehtisch. Komisch, dachten wir uns. Eigentlich kennen wir hier alle, die haben wir noch nie gesehen. Die Bar war genau neben dem Stehtisch, wir haben uns angestellt und genau in dem Moment fragte einer von der Gruppe, ob wir uns nicht dazu stellen wollen. Warum nicht, dachten wir uns. „Trinkt ihr Wodka-O?“ fragte einer. „Ja natürlich“ – zack, hatten wir auch schon den Becher vor uns stehen. Und dann wurde angestoßen. Kurz darauf kam eine Klassenkameradin zu uns, meinte sie kennt einen dieser Typen und dieser hatte sie gewarnt, dass die gerne Mädels was ins Glas schütten. Ehrlich gesagt, wir haben darüber gelacht. Hier bei uns im Dorf? Neee, das passiert hier nicht. In Städten ja, aber hier doch nicht. Ich kann mich noch dran erinnern, dass ein paar gewitzelt hatten, wer es wohl als erstes schafft, was genau sie damit meinten, wusste ich in dem Moment natürlich noch nicht. Und wie es dann genau dazu kam, dass ich mit einem dieser Männer raus bin, weiß ich nicht mehr. Ich habe einfach mitgemacht, ich war völlig neben mir gestanden, war nicht ich. 

Verstanden was mir in dieser Nacht passiert ist, habe ich erst am nächsten Tag. Ich hatte noch nie im Leben solche Kopfschmerzen, nicht mal umgezogen habe ich mich in der Nacht, ich bin mit Jeans und Lederjacke in meinem Bett aufgewacht. Da wusste ich, irgendetwas stimmt nicht.

Als mir plötzlich die Tränen kamen – aus dem Nichts – stand auf einmal meine Klassenlehrerin hinter mir. Hat mir über den Rücken gestrichen und gesagt „Alles wird gut“. Das war der Moment als ich so richtig realisiert habe, was passiert ist. 

Ich habe dann den Abend Revue passieren lassen, ich war völlig in Trance, habe nicht wirklich realisiert, was passiert ist – aber ich wusste, betrunken war ich nicht. 2 Becher Wodka-O, davon kann dieser Rausch nicht kommen. Anvertraut habe ich mich aber niemanden. Wieso auch, dachte ich mir, nachweisen kann man das eh nicht mehr und glauben würde mir auch keiner. „Sie hat ja schließlich mitgemacht“ wäre die Antwort gewesen. Ich stand völlig neben mir und meine Freundin und ich waren das Gerücht im Dorf.

Die letzte Woche vor den Sommerferien war ich zwar körperlich in der Schule anwesend, mit meinen Gedanken aber definitiv nicht. Vor den Sommerferien wurde die Schule von uns Schülern immer „sauber verlassen“. Wir haben also am Pausenhof Müll aufgesammelt, unsere Klassenlehrerin war dabei. Ich weiß noch, ich hatte diese Müllzange in der Hand und bin völlig in mich gekehrt und mit leerem Blick durch die Gegend gelaufen. Aufgesammelt habe ich nichts, bin nur den anderen hinterhergelaufen, als mir plötzlich die Tränen kamen – aus dem Nichts – stand auf einmal meine Klassenlehrerin hinter mir. Hat mir über den Rücken gestrichen und gesagt: “Alles wird gut“. Das war der Moment als ich so richtig realisiert habe, was passiert ist. 

Die Sommerferien über habe ich mich in mein Zimmer eingesperrt und in mein Kopfwissen geheult. Meine Eltern wussten überhaupt nicht was los ist. Auch meine Freundin war nicht wirklich für mich da, meine einzige Vertraute. Sie verlangte dann 3 Wochen später von mir, es meinen Eltern zu sagen, weil im Dorf rumging, dass sie das Flittchen war und nicht ich. So wurde darüber geredet. Also habe ich es meinen Eltern erzählt, aber von Vergewaltigung oder KO-Tropfen habe ich nichts erwähnt.

Die Freundschaft ging ab da in die Brüche – so schlimm, dass wir uns heute nicht mal mehr grüßen. 

Die Schuld für alles habe ich immer bei mir gesucht, ich war schließlich selbst dafür verantwortlich sagte ich mir immer wieder selbst. Nach 3 Jahren des Verdrängens habe ich mich endlich meiner Mutter anvertraut, es kam ein Beitrag über Vergewaltigung im Fernsehen, da habe ich das Weinen angefangen, bin hoch auf den Balkon und meine Mutter kam mir hinterher. Ich habe ihr erzählt was damals passiert ist und wir haben zusammen den Entschluss gefasst, dass ich mir endlich professionelle Hilfe suche.

Die Psychologin antwortete mir auf meine Geschichte, dass sie mir nicht helfen kann und es nach 3 Jahren sowieso zu spät ist. Da bin ich gefühlsmäßig wieder gelandet wo ich kurz nach diesem Vorfall war. Habe zum Glück ein Jahr darauf eine Psychologin gefunden, die mir geholfen hat die ganze Sache zu verarbeiten.

Abschließend kann ich sagen, an dem besagten Abend war ich definitiv nicht ich selbst. Angezeigt habe ich diese Typen nie, wie auch. Solche Tropfen lassen sich leider nur ein paar Stunden nachweisen und geglaubt hätte mir sowieso keiner. Vorwürfe macht man sich natürlich immer noch, auch weil man ja schließlich „mitgemacht“ hat. Mittlerweile kann ich offen darüber sprechen. Es ist ein Teil von mir und wird es immer sein. Meine Geschichte zeigt, es gibt nicht immer die typische „körperliche Gewalt“, die „typische Vergewaltigung“. Und bitte Mädels, auch wenn euch ein Psychologe nicht ernst nimmt, kämpft weiter! Egal wie viel Zeit vergangen ist, ihr müsst es verarbeiten, ihr müsst euch jemanden anvertrauen.“

„Dass nicht normal ist was er tat, wurde mir zum ersten Mal bewusst, als er mich zwei Tage im Bad einschloss.“

„Als ich mit 20 meine erste Tochter bekam und erstmal alleinerziehend war, ging es mir gut. Ich lernte meinen zukünftigen Freund auf einer Party kennen. Ganz klassisch. Er hatte nur noch Augen für mich. Ich fühlte mich besonders.

Nach kurzer Zeit zog ich mit meiner Tochter bei meinen Eltern aus und in meine eigene Wohnung. Er sollte dort mit leben. Aber beim Umzug geholfen hat er nicht. Er kam spät und ging früh. 
Arbeit, Kind (was nicht seins war), Haushalt. Alles war mein Problem. Das erste Mal schlug er mich auf einer Party. Ich fragte ihn warum er so lange mit dem Mädchen redet. Ob er sie kennt. Und dann schlug er mich. Aus dem nichts. Jeder sah es. Niemand sagte was. 
Ich fuhr alleine nach Hause. Er mit ihr. 
Als er morgens nach Hause kam, war ich glücklich, dass er zu mir zurück kam. 

Diese kleinen „Ausrutscher“ passierten ab dann immer wieder. Sie störten mich kaum, denn ich war ja schuld… 
Ich muss dazu sagen, er schlug oder stritt niemals mit mir wenn meine Tochter zuhause war. Niemals. 

Dass nicht normal ist was er tat, wurde mir zum ersten Mal bewusst, als er mich zwei Tage im Bad einschloss. Nackt – und ohne irgendeine Hoffnung, dass mir jemand hilft oder helfen kann. 
Auch werde ich nie vergessen, als er mich mit dem Akkukabeleines alten Nokias schlug. Diese mit dem dicken schwarzen Ende. Dieses dicke Ende hat er benutzt. Nicht das Kabel. 

Ich war damals 21 Jahre alt. Ich komme aus einem tollen Elternhaus. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Ich war beliebt und wunderschön. Wie bin ich da hineingeraten und warum bin ich zu dem Zeitpunkt nicht gegangen? 

Er wollte ein Kind. Ich wollte ein Kind mit ihm. Vielleicht liebt er mich dann, dachte ich… Hört auf mich zu betrügen. Macht es nicht mehr offensichtlich. 
Dieses Gefühl ihn besitzen zu müssen nahm überhand. Es ließ mich nicht mehr klar denken. Ich wurde schwanger. Ich sagte es niemandem. Nicht mal meinen Eltern. Nur wir beide wussten es. 
Niemand gönnte uns das Glück. Zu diesen Zeitpunkt aß ich nicht mehr und was ich aß, erbrach ich. Ich nahm 25 kg ab. Und in der 21 SSW kommt es zu Komplikationen. Ich rufe meine Eltern an, da ich im Krankenhaus bleiben musste. Jemand musste sich um mein Mädchen kümmern. Er tat es nicht. Ich wartete drei Wochen auf den Tod meines Kindes und konnte danach endlich nachhause. Meine Eltern warenmachtlos. Verzweifelt. 
Sie brachen den Kontakt zu mir ab. 7 Monate – keine Mama keinen Papa. Für ihn gab ich sie auf. Ich liebte meine Eltern. 

Zuhause angekommen, erzählt er mir dass er das Kind eh nicht brauchte. Er hätte jemand geschwängert. Drei Tage später bekam sie ihr gemeinsames Kind. Ich fühlte mich nutzlos. Ich blieb bei ihm. Sechs Monate später bekam er mit einer anderen Zwillinge. Und endlich trennte mich endlich. 

Sarah hat schon einiges durchgemacht im Leben. Heute ist sie glücklich. (Foto: privat)

Ein letztes Mal habe ich ihn noch gesehen. Da brach er bei mir ein, vergewaltigt mich und verschwindet. Wieder hilft mir niemand. Denn zu oft habe ich um Hilfe gerufen und ihn danach trotzdem wieder reingelassen. 

Ich wurde wieder schwanger – und entschied mich für einen Schwangerschaftsabbruch. Ich zog aus meiner Wohnung aus und zu meinen Eltern. 

Ich kann wieder atmen. 
Heute, 10 Jahre später. 
Heute geht es mir wieder gut und lebe mit meinen Mann und unseren drei Töchtern in der Nähe von Hamburg. 

Es kann jede treffen und niemand kann dich da rausholen.“

„Ich hätte mir gewünscht, dass mir zugehört und geglaubt wird. Alles drehte sich um ihn.“

“Ich war 15 als ich ihn kennenlernte.
Er war freundlich, zuvorkommend und schenkte mir die Aufmerksamkeit, die ich wollte.
Es ist dieses schwierige Alter, in dem die Hormone verrücktspielen. Sobald jemand besonders nett zu einem ist, plant man schon die Hochzeit. Gleichzeitig weiß man selbst noch gar nicht, wer man ist und was man will und braucht. Die einzigen Dinge, die man über Beziehungen weiß, sind aus Filmen, Serien und dem Elternhaus. Ich freute mich über seine Aufmerksamkeit. Und ich wollte einen Freund. Anfangs schrieben wir nur über WhatsApp, später trafen wir uns auch am Wochenende für wenige Stunden. Ganz am Anfang unserer Gespräche via WhatsApp fragte er nach einem Bild von mir in Unterwäsche. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass ich das nicht tun werde und die Nachfrage sehr dreist finde. Ich war sauer. Gleichzeitig war er aber sonst gar nicht der Typ, dem ich sowas zugetraut hätte. Er war eher ein Außenseiter. Einer, der einem eher nicht auffällt. Nicht einer dieser obercoolen Typen, die sich in den Mittelpunkt drängen und die coolsten Klamotten tragen. Ich war verwirrt und gewährte ihm eine zweite Chance. Dummerweise – denke ich immer noch. Noch heute frage ich mich, warum ich nach dieser Aktion alles erst habe beginnen lassen.

 Wir wurden ein Paar. Nach außen schien alles perfekt, aber wenn wir alleine waren, war es anders. Wir kuschelten viel, knutschten. Macht das, was junge Pärchen in diesem Alter halt machen. Er fragte mich eher unterschwellig und scheinbar vorsichtig, ob ich nicht Lust auf ihn habe. Ich hatte vorher nie darüber nachgedacht und war in dem Moment etwas überfordert. Ich war noch nicht bereit und wusste nicht, wie ich das sagen soll. Ich wollte ihn ja schließlich nicht vor den Kopf stoßen. Ich sagte, dass ich noch etwas Zeit brauche. Er versicherte mir daraufhin, dass er das verstünde und mir die Zeit geben möchte. Aber er wolle mir schon mal einen Vorgeschmack geben. So kam es, dass immer wenn wir uns sahen, er mich – wie er es nannte – „verwöhnte“. Er verwöhnte mich mit seinen Fingern. Anfangs war ich neugierig, merkte aber schnell, dass auch das noch zu früh für mich war. Zu dem Zeitpunkt waren wir vielleicht zwei oder drei Monate zusammen und ich gerade 16 geworden. Im Freundeskreis wurde das Thema Sex immer präsenter und die ersten berichteten von ihrem ersten Mal.

Ich zeigte ihm verbal und körperlich, dass ich nicht will. Doch er war zwei Köpfe größer und wahrscheinlich doppelt so schwer wie ich. Ich hatte keine Chance. Als er fertig war, stand ich auf, machte mich für die Schule fertig

Bei den Treffen mit ihm kam es immer dazu, dass er nicht „verwöhnte“. Auch wenn ich ihm sagte, dass ich keine Lust habe oder nicht möchte, überredete er mich. „Komm, ich weiß doch, dass es dir gefällt.“, oder „Das sagst du immer und dann macht es dir doch Spaß.“ Oder er nervte und probierte es so lange bis ich keine Energie mehr hatte, um zu widersprechen und es einfach über mich ergehen ließ. Ich dachte, es gehört dazu: mal was für den Partner machen, auch wenn man es nicht möchte. Irgendwann schliefen wir zum ersten Mal miteinander und ich fands schön. Mit dem ersten Mal endeten sein „Verwöhnen“. Damit aber auch unser Vorspiel. Er konnte, also ging es los. Ich habe es damals nicht kapiert. Ich habe nicht gelernt, wie man so richtig mit dem ganzen Körper mit einer Person schläft. Ich habe nicht gelernt, wie sich ein Orgasmus anfühlt oder wie man richtig Spaß dabei hat. Während er mit mir schlief, habe ich über meine Hausaufgaben nachgedacht oder in Gedanken aus dem Fenster gesehen. Trotzdem habe ich mich danach mies gefühlt. Ich habe mich schuldig gefühlt, dass ich nicht richtig „bei der Sache“ war. Die Beziehung dauerte an und viele der Dinge, die ich eben beschrieben habe, habe ich so richtig erst im Nachhinein verstanden. Als es zu unserer letzten gemeinsamen Nacht kam, waren wir gerade zwei Jahre zusammen. In dieser Zeit haben wir uns öfter gestritten. Ich wollte mich trennen und schaffte es nicht. Er überredete mich zu bleiben, versprach Besserung oder drohte, sich etwas anzutun. An diesem Donnerstag hatten wir uns wieder gestritten und er wollte vorbeikommen, um sich zu entschuldigen. Ich überredete meine Eltern, dass er ausnahmsweise mal unter der Woche bei mir übernachten dürfte. Er kam abends zu mir. Wir legten uns in mein Bett und redeten. Nachdem wir uns ausgesprochen hatten, wollte er mit mir schlafen. Ich verneinte und meinte, ich sei müde. Morgen müssen wir beide in die Schule. Außerdem fühlte ich mich nach dem Streit noch nicht sonderlich beruhigt oder sicher, wieder mit ihm zu schlafen. Ich wusste nicht, ob ich diese Beziehung noch will. Er probierte es in der Nacht noch einmal. Wieder stieß ich ihn weg. Am Morgen weckte er mich mit Küssen und seine Hände wanderten über meinen Körper. Ich zeigte ihm verbal und körperlich, dass ich nicht will. Doch er war zwei Köpfe größer und wahrscheinlich doppelt so schwer wie ich. Ich hatte keine Chance. Als er fertig war, stand ich auf, machte mich für die Schule fertig. Er setzte mich vor meiner Schule ab. Ich fragte ihn noch, ob auch alles in Ordnung wäre, wenn wir keinen Sex gehabt hätten. Er schaute verwundert und meinte nur „ja klar“. Später schrieb ich nur, dass ich ihn nie wieder sehen will und es endgültig vorbei ist. Zwei Monate hat er noch immer wieder versucht Kontakt aufzubauen oder mit mir zu reden. Ich blockte alles ab. Dann hatte er eine neue Freundin.

Ich hatte in der Zwischenzeit auch jemanden kennengelernt. Jemand, der ganz anders war. Wir kannten uns aus der Schule und hatten einige Kurse gemeinsam. Wir verstanden uns gut und hatten auch viel Kontakt. Alles auf freundschaftlicher Basis. Wir trafen uns auch häufiger, als Freunde. Irgendwann nach einer Party, als wir beide getrunken hatten, übernachtete ich bei ihm. Eins kam zum anderen und wir schliefen miteinander. Am nächsten Morgen fragte er mich, ob wir zusammen sein wollen. Ich war etwas überrascht. Das war eigentlich nicht meine Intension. Aber ich mochte ihn ja und er schien so ganz anders als mein Exfreund. Ich bin eine lebensfrohe, laute und aufgeschlossene Person. Ich hatte damals viele Freunde aus mehreren Freundeskreisen, tanzte in einer Showdance-Gruppe auch auf Dorffesten vor vielen Menschen und war generell gerne auf Partys. Ich fand toll, dass er diese Dinge an mir mochte. Ich riss ihn mit und beeindruckte ihn mit meiner vorlauten Art. Ich hatte immer einen Spruch auf den Lippen und gab nie klein bei. Er sagte mir immer wieder, wie toll er das an mir fand. Irgendwann wendete sich alles. Er wurde zunehmend eifersüchtiger. Für mich war die Eifersucht unbegründet. Ich versicherte ihm, dass ich ihn niemals betrügen würde. Auf Partys wollte er immer dabei sein und ich sollte möglichst den ganzen Abend bei ihm bleiben. Ich sagt ihm, dass ich das nicht mitmache. Ich wollte Spaß haben und tanzen. Sobald ich mit einem anderen Jungen redete, kam er sofort und stellte sich dazwischen. Dann fing er an mir vorzuschreiben, was ich nicht mehr anziehen darf. Ich sagte ihm immer, dass ich mich nicht einengen lasse. Aber irgendwann war mir das zu anstrengend. Einmal schaute er in mein Handy als ich schlief und durchsuchte meine Chats nach irgendwelchen Hinweisen, dass ich ihn betrüge. Nach einem halben Jahr machte er mit mir Schluss. Ich würde nur feiern und mich mit meinen Mädels treffen, aber nicht genug Zeit mit ihm verbringen wollen, sagte er.

An einem Tag war es dann soweit. Ich musste nur noch 20 Meter diesen Weg entlang, bevor ich endlich abbiegen konnte. Da sah ich sein Auto in den Weg einbiegen. Ich ging zur Seite, sodass er gut vorbei fahren kann. Kurz vor mir hat er das Gaspedal durchgedrückt und ist auf mich zu gefahren. Ich sprang zur Seite. Da hatte ich meine erste Panikattacke. 

Danach begann der Horror. Er beleidigte mich. Zuerst nur subtil. „Du hast doch eh jedes Wochenende einen anderen Kerl.“ Über diese Aussagen konnte ich noch lachen. Es stimmte nicht und selbst wenn, es hatte ihn nicht mehr zu interessieren. Später wurden seine Beleidigungen härter. Er begann, mich zu bedrohen: Ich werde irgendwann schon sehen, was mir das alles bringe. All das war nicht schlimm, im Gegensatz zu dem, was mich in der Schule erwartete. Er versuchte, mir alle Freunde zu nehmen. Wir waren nur ein kleiner Jahrgang, mit ca. 80 Leuten. Er verbreitete Lügen und versuchte, mich in den Dreck zu ziehen. Alle redeten über mich. Es gingen verschiedenste Gerüchte über mich herum. Er erzählte FreundInnen Dinge, die ich angeblich zu ihm über sie gesagt hätte, um mich bei ihnen schlecht dastehen zu lassen. Er äußerte sich über meinen Körper. Ich war schon immer unsicher wegen meiner kleinen Körbchengröße. Eine Freundin erzählte mir folgenden Satz, den ich bis heute nicht vergessen kann. „Sie hat keine Brüste, das sind nur Nippelerhebungen.“ Bis heute ist das wie ein Stich. Er verbreitete außerdem ein Bild in Unterwäsche von mir. Ich wollte ihm das in der Beziehung nicht senden. Er hat mich überredet.
Das konnte so nicht weitergehen. Ich war am Ende. Ich vertraute mich meinen Eltern an. Wir überlegten gemeinsam, was wir tun könnten. Ich wollte nicht persönlich mit ihm sprechen und wollte auch nicht, dass meine Eltern mit seinen sprechen. Wir haben uns dann an meine Tante gewendet, die Polizistin ist. Ich habe begonnen, alles zu dokumentieren. Ich habe seine Drohungen gescreenshottet und Freunde gebeten, seine Aussagen via Nachricht ebenfalls zu screenshotten. Ich druckte alles aus. Mit meinen Eltern einigte ich mich, zur Vertrauenslehrerin meiner Schule zu gehen. Ich mochte diese Lehrerin und sah es als letzten Ausweg bevor ich zur Polizei ging. Ich wollte zu dem Zeitpunkt einfach nur, dass es aufhört. Es war das letzte Halbjahr der zwölften Klasse. Die Abiprüfungen standen kurz bevor. Im Gespräch mit der Vertrauenslehrerin, bot sie mir zwei Möglichkeiten. Ich könne mit ihm reden und sie vermittelt oder sie redet alleine mit ihm. Ich wählte die zweite Variante. Ich hatte so Angst vor ihm und bekam schon Panik bei dem Gedanken, ihm gegenüber sitzen zu müssen. Sie redete mit ihm und es kam genau so wie ich es erwartet hatte. Er zog sie auf ihre Seite. Ich weiß, die Behauptung klingt heftig. Gerade das sollte man als Vertrauenslehrerin nicht tun. Sie teilte mir nach dem Gespräch mit ihm mit, dass er alles bereue und ich mir keine Gedanken machen brauch. Ich glaubte ihr kein Wort. Und ich merkte an der Art und Weise wie sie mit mir redete, dass SIE ihm glaubte. Er hat sie, wie alle anderen auch, auf seine Seite gezogen. Danach hatte ich keine Kraft mehr zur Polizei zu gehen. Ich wollte nicht, dass es noch schlimmer wird. Ich hatte Panik, dass er mir nach einer Anzeige noch etwas viel schlimmeres antut. Es kam dann noch zu einem Vorfall. Auf meinem Heimweg nach der Schule musste ich immer eine sehr schmale Straße entlang. Auf ihr passte geradeso ein Auto durch. Ich wusste, dass er diesen Weg fährt, wenn er einen gemeinsamen Freund besuchen will. Jeden verdammten Tag hatte ich Angst, diesen Weg zu gehen. An einem Tag war es dann soweit. Ich musste nur noch 20 Meter diesen Weg entlang, bevor ich endlich abbiegen konnte. Da sah ich sein Auto in den Weg einbiegen. Ich ging zur Seite, sodass er gut vorbei fahren kann. Kurz vor mir hat er das Gaspedal durchgedrückt und ist auf mich zu gefahren. Ich sprang zur Seite. Da hatte ich meine erste Panikattacke. 

Ich bin mehr oder weniger immer selbst aus diesen toxischen Beziehungen gekommen. Ich hatte dabei aber immer Unterstützung von vielen Freundinnen. Aber vor allem bei der zweiten Geschichte, wusste ich irgendwann nicht mehr, wem ich vertrauen kann. Wer glaubt ihm mehr als mir? Wer ist wirklich für mich da? Wer hat ihm vielleicht von meinen Ängsten erzählt? Wer macht sich über mich lustig? Ich kann nicht genau sagen, wie ich daraus gekommen bin. Irgendwie habe ich immer weiter gemacht. Ich habe die Schule beendet, gefeiert, viel mit wenigen Freunden darüber gesprochen, vieles aufgeschrieben. Das reden hat mir immer geholfen. Ich wusste, dass ich nicht schuld bin. Ich hatte sicherlich einige Dinge übersehen, die mich schon früher gewarnt hätten. Aber so etwas kann niemand erwarten. Ich habe mich nur immer wieder gefragt, warum gerade ich? Warum zweimal hintereinander? Womit hatte ich das verdient? 

Es gibt kaum Aufklärung darüber, was wirklich zu einer gesunden Beziehung gehört. Ich wünsche mir, dass an Schulen, im Internet und in der Familie viel deutlicher kommuniziert wird, was eine gesunde Beziehung ist.

Nach dem letzten Vorfall kam nur noch der Abiball und ich wusste, danach sehen wir uns nie wieder. Ich wusste, durch die räumliche Trennung wird alles eine Ende haben. Ich zog 300 km entfernt von meinem Heimatdorf in eine größere Stadt. „Jetzt kann ich alles hinter mich lassen“, dachte ich. Doch ich bekam wöchentlich Panikattacken bekommen und suchte mir einen Therapeuten. Er hat mir geholfen. Ich habe heute keine Panikattacken mehr. 

Allerdings kann ich auch nicht sagen, dass ich normal bin. Ich habe viele Ängste, kann Kontrolle nicht abgeben und kann nur sehr schwer Vertrauen aufbauen. Ich habe bis heute kein gesundes Verhältnis zu Beziehung und Sex. Ich kann mich beim Sex nicht fallen lassen. Aber ich weiß, dass ich stark bin. Wenn das alles etwas gebracht haben soll, dann das. Ich stehe für mich auf, kämpfe für mich und lasse mich nicht unterkriegen.

Es ist schlimm, dass mir das passiert ist. Ich finde aber noch viel schlimmer, dass es immer wieder passiert und dass andere junge Mädchen auch sowas durchleben müssen. Die Romantisierung in Filmen und Serien von Gewalt gegen Frauen (siehe 365 days oder Fifty Shades of Grey) legitimiert solches Verhalten bei Jungen und Männern. Es gibt kaum Aufklärung darüber, was wirklich zu einer gesunden Beziehung gehört. Ich wünsche mir, dass an Schulen, im Internet und in der Familie viel deutlicher kommuniziert wird, was eine gesunde Beziehung ist. Vor allem Jugendliche sehen Beziehung und Liebe im Zusammenhang mit Besitz und das ist einfach falsch. Ich hätte mir gewünscht, dass mir zugehört und geglaubt wird. Alles drehte sich um ihn. Warum er was gemacht hat. Ihm wurde zugehört. Ich war nur das Opfer, aber das wollte ich nie sein. Ich würde mich auch heute niemals als Opfer bezeichnen, sondern wenn dann als Betroffene. Es muss viel mehr Präsenz geben für diese unterschwellige Gewalt. Als ich jünger war, war Gewalt gegen Frauen für mich die erhobene Hand. Aber es ist so viel mehr. Es ist die unbegründete Eifersucht, das Verbieten, das Einengen, das Vorschreiben, das Einschüchtern und so viel mehr. Ich glaube, vielen ist gar nicht bewusst wann Gewalt anfängt und was alles falsch ist und eben nicht in eine gesunde Partnerschaft gehört. Da sollte angesetzt werden. Junge Mädchen sollten in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. Unangemessenem Verhalten von Jungen und Männern darf nicht nur mit der Aussage „Boys will be Boys“ entgegnet werden. Und für mich das A und O: reden, reden, reden.

Ich wünsche mir außerdem, dass Kinder schon früh lernen, das jeder seine individuellen Grenzen hat und es die zu respektieren gilt. Wenn Kinder gekitzelt werden, muss ein „Hör auf!“ respektiert werden. Denn nur wenn Kinder lernen, was ihre Grenzen sind, können sie die bei anderen auch akzeptieren. “Nein heißt nein“ – das muss früh gelernt und eben auch von Erwachsenen gezeigt werden.“

Hi, Germany! I guess, we are back.

Dieses 2020. Es sollte groß, spannend und anders werden.
Und bisher ist es das auch: groß, spannend… anders… Doch definitiv nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.

2020. Wahljahr. US-Wahlzirkus. Boom. Bäääm. Nach fast einem Jahrzehnt USA sollte dies nun unser letztes Jahr in den Staaten sein… wie passend, dachte ich. Noch einmal alles mitnehmen, einen weiteren Wahlkampf mit allem was dazu gehört: einen aufregenden Vorwahlkampf, pompöse Auftritte der PräsidentschaftkandidatInnen, Parteitage mit Luftballons und Konfetti, der große Wahltag… Ein Abgang mit Pauken und Trompeten.

Doch dann, mitten im Vorwahlkampf, am 12. März trat Trump vor die Presse und verkündete den Travel Ban aus EU-Staaten und irgendwie plötzlich war dieser „Coronavirus“ auch bei uns in den USA omnipräsent. Ab dann überschlugen sich die Ereignisse: man vermutete, dass die Fallzahlen bereits deutlich höher seien, als die offiziell bestätigten 1100, denn in den USA gab es zu dem Zeitpunkt nicht ansatzweise genügend Tests. Der Vorwurf stand schnell im Raum, dass der Präsident über Wochen das Virus heruntergespielt habe (wir wissen mittlerweile, dass er dies absichtlich tat um im Wahljahr keine schlechte Stimmung und Panik zu verbreiten).

Kitas und Schulen schlossen, Kinder zu Hause, kein rein-, kein raus. stuck in the USA. 
Statt Berichte vom US-Vorwahlkampf sendeten die Nachrichten monothematische  Sondersendungen über den CORONAVIRUS. 

Der Wahlkampfzirkus tröpfelte vor sich hin: Ziemlich schnell war klar, 2020 treten zwei alte weiße Männer an. Nothing new. How boring. Zu Hause: alles andere als boring. More exhausting, to say the least. Einige Wochen hatten wir vormittags kostbare Unterstützung bei der Kinderbetreuung von einer Studentin, doch die wurde irgendwann abgeworben. Eine Familie unterbreitete ihr ein langfristigeres und besser bezahltes Angebot. Die Suche nach Ersatz gestaltete sich schwierig: gefühlt jede Familie suchte nach Betreuung für die Kinder zu Hause. Der eh schon stattliche Stundenlohn einer Nanny erreichte in DC im Juni ein neues Rekordhoch: 30 Dollar die Stunde. 

„Summer 2020 – a summer to remember“

Wir verbrachten im schwül-heißen Washington einen „Summer to remember“: die Covidkurve stieg und stieg, die Kinder mussten selbst beim spazieren gehen Maske tragen, Spielplätze blieben geschlossen – und auf den Straßen: wütende Menschen, die endlich Gleichberechtigung von Schwarzen forderten. 
Das eh schon zerrissene Land: die Gräben schienen Tag um Tag tiefer. Nicht zuletzt wegen eines Präsidenten, der durch Twitter-Tiraden und bemerkenswerte Aussagen sein Volk aufstachelte, anstatt es zu einen.

Beruflich hätte es nicht besser laufen können. Das Einreiseverbot aus der EU im Wahljahr bedeutete für mich als deutsche Journalistin in den USA: unverhoffte Angebote… die Journalistin Elisabeth freute sich, während die Mutter Elisabeth sich fragte, wie sie das alles unter einen Hut bringen sollte…
Der Vorteil für mich: aufgrund der Situation wurden eigentlich alle wichtigen Großevents in einem Wahlkampfjahr abgesagt und fanden online statt. Zwar traurig und ärgerlich, doch für mich auch besser zu organisieren.

Im August war klar: mit dem Herbst in Aussicht hätten wir weiterhin keine verlässliche Kinderbetreuung. Zwar wollte der privat geführte Kindergarten der Mädchen (vorübergehend) wieder öffnen, doch was bedeutet das schon, zu Covid-Zeiten. Wir entschieden uns gegen den Kindergarten, vor allem deshalb, weil die monatlichen stattlichen Beitragsgebühren von 1500 Dollar auch fällig gewesen wären, wenn die Kita pandemiebedingt noch mal schließen müsste.

 Mittlerweile hatten so gut wie alle europäischen Freunde dem coronageplagten Land den Rücken gekehrt. Unsere Kinder, die Abschiede in DC gewöhnt waren, fühlten sich erstmals zurückgelassen, waren verunsichert, wer nun als nächstes gehen würde. 
In unserer einst belebten und beliebten Nachbarschaft schloss Woche um Woche ein Geschäft und Restaurant nach dem anderen. In deren Eingängen schliefen nun Obdachlose, durch die Straßen liefen nur noch Ortsansäßige: mit Maske und gebührend Abstand.  

Die Schilderungen aus der Heimat hörten sich im Vergleich dazu an, wie das Paradies auf Erden: Was für ein normales Leben dort – in Mitten einer Pandemie – geführt werden darf. 

Während das Mutterherz hüpfte, blutete das Journalistinnenherz

Immer wieder stand die Frage im Raum: ob ich mit den Kindern vorzeitig nach Deutschland zurückkehre. Immer wieder sagten wir uns, wir würden noch mal zwei Wochen abwarten…
Ende August sahen wir uns wieder einmal tief in die Augen. Eine Freundin musste aus privaten Gründen kurzfristig nach Deutschland – somit hätte ich ein extra Paar helfende Hände für einen transatlantischen Flug mit drei Kindern unter sechs Jahren.
Stundenweise unterstützte mich zu der Zeit eine Lehrerin der Kinder, die aufgrund von Corona ihren Job verloren hatte… doch sie sagte mir ehrlich: sobald sie einen langfristigen Vollzeitjob angeboten bekäme, würde sie den annehmen. 

„Ich fliege mit“, sagte ich zu meinem Mann – dem ein stressiger, arbeitsreicher Herbst bevorstand: ohne feste Arbeitszeiten, ohne Wochenenden. 
Ich buchte den Flug. Sechs Wochen vor der Wahl. Autsch. 
Während mein Mutterherz hüpfte, blutete mein Journalistinnenherz. 

Doch, unsere Kinder mussten mittlerweile so viele Abstriche machen, dass sie nun endlich wieder positive, schöne Erlebnisse in ihrem Alltag brauchten. Vier Wochen Urlaub bei Oma. Sagten wir. Doch gleichzeitig fragte ich mich, ob wir wirklich noch mal nach DC kämen. Wofür noch mal die Kinder in den Flieger zwängen? Was sollte da auf uns warten? Eine Entspannung der Lage? Ein leichterer Alltag?

Der einzige Trost war tatsächlich, dass ich als Journalistin vom Wahlkampf nicht groß etwas verpassen würde: kein BIG ELECTION DAY, keine Wahlparties. Kein Glanz, kein Gloria.

Und so stieg ich Mitte September mit drei Koffern, drei Kindern und ohne Mann in den Flieger. Passt. Dachte ich. Sollte dies das Ende meiner Amerikajahre sein, passt das ins 2020. 

Nun sind wir in Deutschland. Und werden dieses Jahr nicht mehr zurück nach DC fliegen. Mein Mann kommt kurz vor Weihnachten zu uns. Ja, Deutschland fühlte sich als wir landeten frei an. Die Kinder konnten die ersten Tage ihr Glück kaum fassen: „Mama, ich mag Deutschland“. „Deutschland ist wie ein Märchen“. In ihrer kleinen Welt ist Covid-19 nur noch klitzeklein präsent. Kaum spürbar. „This is because of coronavirus“, hatten sie sich in Amerika irgendwann selbst gegenseitig erklärt, wenn sie nicht auf den Spielplatz gehen konnten, keine Play Dates machen konnten, nicht in den Kindergarten gehen durften. Diesen Satz habe ich seit Wochen nicht mehr gehört.

Zu wissen, dass die Verantwortung auf mehreren Schultern verlässlich verteilt werden kann, ist ein völlig neues Gefühl.

Nach 8 Jahren Leben im Ausland sind wir nun wieder in Deutschland

Hier, im freien Deutschland, ist nicht gleich alles leichter und wie wir alle gerade zu spüren bekommen: wir müssen auch in Europa noch eine ganze Weile mit dem Virus leben. Doch ich habe hier wenigstens das Gefühl in einem Land zu leben, dessen Regierung die Lage wirklich ernst nimmt.

Für unsere Familie, gerade für die Kinder war dies wohl richtige Schritt. Ob es der einfachere Weg ist? Wohle eher nein. Vielleicht gehe ich da irgendwann noch mal näher drauf ein. Aber nur so viel: es sieht so aus, als würden die Kinder erst im März 2021 einen Kindergarten von innen sehen. Dann waren sie genau ein Jahr zu Hause, hauptsächlich bei mir – und seit Neustem auch bei Oma… denn ja, das ist ein völlig neues Gefühl für mich: nicht mehr tausende Kilometer von den Lieben entfernt zu sein, sondern das Sicherheitsnetz „Familie“ unter sich zu haben. Man atmet schon etwas aus – zu wissen, dass momentan die Verantwortung auf mehreren Schultern verlässlich verteilt werden kann. Kids… It takes a village…

2020. Ich habe so viel von Dir erwartet – und in jeglicher Hinsicht hast Du Dich selbst übertroffen: du bist groß, spannend und ja, auch anders. In gewisser Weise eine Akkumulation von dem, was LEBEN ist. Chaotisch, dramatisch, anstrengend, unerwartet, unverhofft, herausfordernd. Zeigst, dass man doch stärker ist, mehr aushält, als man denkt.

Und, 2021. Ich bin mehr als bereit für Dich. Diesmal habe ich keine großen Erwartungen an das neue Jahr. Ich hoffe, dass meine Lieben und ich weiterhin gesund bleiben. Und wir einfach, einen stinknormalen Alltag leben. Vielleicht mit einem Urlaub am Meer? Aber, ganz ehrlich… selbst das muss nicht sein. 😉

Mögen aus kleinen Menschen gute Menschen werden

Meine drei Kinder sind in den USA geboren und verbringen hier die ersten Jahre ihres Lebens. Was will ich ihnen mitgeben?

Mein Mann und ich erziehen aus dem Bauch heraus.
Neulich aber habe ich mich gefragt, was mir eigentlich wichtig ist in der Erziehung meiner Kinder. Neben der Tatsache, dass sie natürlich glücklich sein sollen, schwirrte eigentlich nur ein Satz in meinem Kopf: „Sie sollen gute Menschen werden.“ Good people.

Glückliche gute Menschen. Keine glücklichen Arschlöcher. Davon gibt es schon zu viele.

Und mir kamen konkrete Situationen in den Sinn: 

Den Obdachlosen an der Kreuzung nicht gezielt ignorieren oder gar verachtend anschauen, sondern freundlich zulächeln. Oder ihnen etwas zu Essen und bei der Hitze eine Flasche Wasser bringen.

Sich mit der weißen Kassiererin genauso unterhalten, wie mit der Schwarzen Vermieterin – oder umgekehrt.

Dazu gehören aber auch Kleinigkeiten, wie: Bitte! Danke! Entschuldigung! Hallo! Auf Wiedersehen! 

Bevor man das letzte Stück Brot nimmt: fragen ob man es mit jemandem teilen kann.

Wenn man die Wand mit rotem Lippenstift angemalt hat, dies auch zugeben. 

Und sie sollen nicht nur wissen, sondern auch wirklich verstehen, wie privilegiert sie in manchen Bereichen sind und wohl immer sein werden. 

Weil sie weiß sind, weil ihre Eltern ihnen Dinge ermöglichen können – die anderen Kindern einfach verwehrt bleiben:

Meine Kinder werden vermutlich nie nach Hause kommen – und in einen leeren Kühlschrank gucken. Sie werden nie mitbekommen, wie ihre Eltern sich entscheiden müssen, ob das Geld für einen Einkauf oder die überfällige Miete ausgegeben wird.

Wenn Mama und Papa gleichzeitig arbeiten, müssen sie tagsüber nie alleine sein, weil wir uns einen Babysitter leisten können. 

Wenn sie später Schwierigkeiten in der Schule haben, werden sie durch uns Unterstützung bekommen – oder bezahlte Nachhilfe. 

Privilegien, für die sie nichts können. Aber für die sie auch nichts getan haben. 

Meine Kinder bekommen in den vergangene Wochen viel mit. 

Sie wurden angeschrien, weil sie im Park keine Maske trugen. 

Sie bekamen Brüllereien zwischen Schwarzen und weißen mit.

Sie sehen, dass jede Woche mehr Obdachlose auf den Straßen unserer Nachbarschaft schlafen, betteln, schreien – oder sich unterhalten.

Mich hat neulich jemand gefragt, ob das nicht zu viel sei für so kleine Kinder. Ob sie das nicht verunsichere, verängstige.

Klar, manchmal schauen sie irritiert, zucken zusammen. Aber was sie sehen und mitbekommen ist nur ein klitzekleiner Ausschnitt der Lebensrealität so vieler Menschen. Und die haben nicht die Möglichkeit wegzusehen oder gar wegzurennen.

Ja, meine Kinder stellen Fragen – und sie bekommen Antworten. Auch wenn das manchmal nicht so einfach ist.

Sie sehen, dass Leute auf die Straße gehen um zu demonstrieren – weil Schwarze ungerecht behandelt werden.

Schwarze Kinder, wie ihre Freundin Niles. Schwarze Frauen, wie die Kinderarzthelferin oder ihre Babysitterin.  Sie wissen es – und sie verstehen es nicht: es ergibt für meine Große, sie ist fünf, einfach keinen Sinn. 

Am Freitag sprachen wir wieder darüber, als ich zu den BLM-Protesten aufbrach. Als ich von der Polizeigewalt besonders gegenüber Schwarzen erzählte, schüttelte sie den Kopf und sagte: „weil sie Schwarze Haut haben?! Aber warum?“ 

Es klingelte. Lea stand vor der Tür. Unsere Babysitterin, die einspringt, wenn mein Mann und ich gleichzeitig arbeiten. 

Die Große sagte: „Lea, today, a lot of people meet again… you know, sometimes Black people are (being) treated wrong.“ Lea sagte: „I know, honey“. „But why?“, fragte meine Tochter wieder: „Black people. Like you!“

Ja, diese Empörung, diese pure Fassungslosigkeit über Ungerechtigkeiten, die objektiv keinen Sinn ergeben…. ich hoffe, dass meine Kinder sich ihre Sensibilität, ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Wut darüber erhalten. 

Und ihren Mund aufmachen. Für und mit Lea und Niles – ein Leben lang.