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Autor: admin

Vergessene Krisen: Der Libanon kollabiert gerade, die Weltbevölkerung aber bekommt kaum etwas davon mit

In ihrer Stimme liegt Enttäuschung, Abgeschlagenheit und eine Menge Lebenserfahrung, die man niemandem wünscht. Auf dem Platz der Kirche Mar Takla im Beiruter Stadtteil Sad El Baouchriyeh wird das Klagen von Juliette Marouns immer lauter: „Es ist eine Schande, dass alte Leute sich hier anstellen müssen, wenn sie nicht verhungern wollen“, so die 79-Jährige, die sich in der Schlange der mobilen Suppenküche des libanesischen Malteserordens eingereiht hat. Heute gibt es Linsen, gebratenes Gemüse und Brot – die kostenlose Mahlzeit sei mal wieder ihre Rettung, denn heute habe sie noch nichts gegessen. Juliette Marouns gehört zu dem Großteil der Bevölkerung, der sich ohne Unterstützung von Hilfsorganisationen keine warme Mahlzeit mehr leisten kann. Laut UN leben mittlerweile bis zu 80 Prozent aller Libanes:innen sowie 95 Prozent aller syrischen Geflüchteten im Libanon in Armut.

Von: Edith Löhle

@danielkothoefer

Foto: Daniel Kothoefer

Die aktuelle Situation in dem kleinen Land im nahen Osten, so sagen NGOs, sei eine vergessene Krise. Denn der Weltbevölkerung ist kaum klar, dass sich hier eine humanitäre Katastrophe abspielt: Seit Sommer 2019 rutscht der Libanon nach Jahrzehnten der Misswirtschaft, innenpolitische Machtkämpfe und Korruption immer tiefer in die Krise. Und dann noch Covid19 und die Explosion am Hafen im August 2020, bei der mindestens 200 Menschen starben und 300.000 obdachlos wurden. Mittlerweile hat das libanesische Pfund mehr als 95 Prozent seiner Kaufkraft eingebüßt, Hunderttausende verloren ihre Ersparnisse und ihre Arbeitsstellen. Die Preise für Lebensmittel, Heizmaterial, Medikamente und alle Dinge des einfachen Lebens sind unermesslich in die Höhe geschossen. Die Weltbank spricht von einer der weltweit schwersten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

Foto: Jon Hoekstra

„Ich habe 20 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, aber ich bekomme keine Pension. Der Staat behandelt uns wie Tiere. Die Politiker sind Diebe und lassen uns mit allem allein. Wer – so wie ich – keine Kinder und keine Familie im Ausland hat, hat ein schreckliches Leben. Mütter können sich keine Milch mehr für ihre Babys leisten. Alles wird immer teurer. Ich habe deshalb das Gefühl, dass ich ersticke. Ich würde lieber sterben als so weiterzuleben“, fasst Juliette Marouns die prekäre Situation zusammen. Ihr Land sei immer wieder vor Herausforderungen gestanden, so schlimm sagt sie, war es allerdings noch nie. Was sie mit Herausforderungen meint, wird mit einem Blick in die Historie des Libanons klar: Von 1975 bis 1990 forderte der Bürgerkrieg fast 100 000 Menschenleben. Trotz vieler Unruhen, Anschläge und eines weiteren Krieges im Jahr 2006 kam das kleine Land an Mittelmeer langsam wieder zu Kräften. Dann brach im Nachbarland Syrien 2012 der Krieg aus, und rund 1,5 Millionen syrische Geflüchtete strömten in das Land, in dem schon zuvor 250.000 palästinensische Geflüchtete lebten. Damit ist der Libanon das Land mit dem weltweit höchsten Anteil an Geflüchteten – und die seit Jahren bröckelnde Infrastruktur ist mit dem Ansturm komplett überfordert.

„Der Libanon kollabiert vor unseren Augen“, sagt Luise Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Damit Länder wie der Libanon nicht vollkommen aus dem Blick geraten, haben die Johanniter zusammen mit rund 30 deutschen und internationalen Hilfsorganisationen die Kampagne #InDenFokus ins Leben gerufen. Gefördert wird sie vom Auswärtigen Amt. Der Libanon, der Südsudan und Bangladesch stehen dabei stellvertretend für die vielen humanitären Krisen, die medial kaum begleitet werden. Luise Amtsberg ist Schirmherrin der Kampagne und führt fort: „Menschen leiden, auch wenn wir sie nicht leiden sehen. Deswegen ist diese Kampagne so wichtig: Um Leid sichtbar zu machen, aber auch um einen Beitrag dazu zu leisten, es zu lindern.“

Weltweit gibt es Regionen, in denen Menschen unter Hunger, Vertreibung, bewaffneten Konflikte und unzureichendem Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung leiden. Wie schafft man es in Anbetracht der schiefen Weltlage, dass Krisen und somit die Menschen darin nicht vergessen werden? In dem wir uns ihre Gesichter merken, ihre Geschichten, wie die von Juliette Marouns, in den Fokus rücken: Eine Krise gilt solang als vergessen, bis wir darüber sprechen, nachfragen und dranbleiben. Dann ist die Kraft des Erinnern stärker als das Vergessen.

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Mehr Infos auf www.indenfokus.de. Die Recherchereise fand auf Einladung der Johanniter-Auslandshilfe statt.

Zeitzeugin eines halben Lebens

Meine Katze ist gestorben

“Lilly ist zum Sterben gegangen”.

Das schrieb mir meine Mutter vor ein paar Wochen. Damit ist das eingetroffen, womit wir schon seit Monaten gerechnet hatten. Schließlich war Lilly schon eine alte Dame: In Katzenjahren fast 119 Jahre alt! Bei unserem letzten Besuch im vergangenen August sprachen wir darüber, dass es wohl bald mit ihr zu Ende gehen würde: Sie schlief extrem viel. Hörte kaum noch und fing schon längst keine Mäuse mehr. Sie war schnell außer Atem. “Ich glaube, ich sehe sie zum letzten Mal. Das ist ihr letzter Sommer”, sagte ich.  Meine Mutter nickte.

Lilly war eigentlich meine Katze. Doch nach meinem Abitur blieb sie bei meiner Mutter am Bodensee wohnen. Dort führte sie ein wunderbares Katzenleben: Sie fing im Garten Mäuse, sonnte sich auf den warmen Steinen und kratzte am alten Feigenbaum.

Sie war ein Freigänger und war – wie wohl jede Katze –  ein Freigeist:

Kraulen ja, aber nur wenn sie es möchte – und ausschließlich an bestimmten Stellen.

Futter ja, aber nur das eine.

Lilly war eine stolze Katzendame mit grünen, leuchtenden Augen, schwarzem glänzendem Fell und einem weißen Fleck vorne auf der Brust.

Die Nachricht meiner Mutter war also keine Überraschung. In den Tagen danach begleitete mich eine dumpfe Traurigkeit.

Ich hatte das Gefühl, dass mit dem Tod von Katze Lilly das Kapitel meiner Jugend endgültig endete.

Denn die Geschichte, wie Lilly zu mir kam, ist eine besondere und gleichzeitig die Geschichte einer tragischen, weil unerfüllten Jugendliebe.

Lilly war das Geschenk eines jungen Mannes: Clemens.

Clemens war zwei Jahrgänge über mir. Er spielte begnadet Klavier im Schulorchester und ich sang im Schulchor.

Zwei Jahre zuvor war ich endlos in Clemens verknallt.

Jedes Mal, wenn er mit mir sprach, spürte ich, wie mein Gesicht rot anlief und mir heiß und kalt wurde. Clemens, mein erster echter Schwarm – meine erste nicht erfüllte Liebe.

Als wir zwei Jahre später im Sommer plötzlich viel Zeit miteinander verbrachten, hatte sich meine Welt weitergedreht. Ich war über Clemens hinweg und konnte mich auf unsere Freundschaft einlassen. Die Unternehmungen, die lauen Sommerabende, die Fahrten mit dem alten Cabrio seines Vaters und die langen Telefonate am Abend – all das erlebte ich als gute Freundin.  Wir sprachen über vieles. Clemens hatte ein offenes Ohr und gute Ratschläge. Denn ich hatte mein Herz inzwischen an einen anderen Jungen verloren. An Tom, den lässigen Saxophonspieler. “Elli, der ist nicht gut für Dich”, sagte Clemens immer wieder.

Eines Abends rief er an: “Schläfst Du schon? Ich würde sonst kurz vorbeikommen. Ich hab etwas für Dich.”

10 Minuten später stand er mit einem Korb vor der Tür. Darin saß eine kleine schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust. Und einem roten Schleifchen um den Hals.

“Für Dich. Und der hier ist für später”. Er drückte mir das Körbchen und einen Briefumschlag in die Hand…

“Du hast doch mal erzählt, dass Du irgendwann mal eine schwarze Katze mit weißem Fleck haben möchtest”.

Hab’ ich das?, dachte ich. Stimmt. Hab’ ich.

Mein Herz klopfte. Ich fühlte einen Kloß im Hals, der mit jedem Schlucken immer größer wurde.

Ich bat Clemens rein, hob das Kätzchen aus dem Korb und setzte es auf meine Beine. Es schmiegte sich in meinen Schoß und schlief sofort ein.

Der restliche Abend, das Gespräch… Ich konnte mich kaum konzentrieren. Ich war überfordert mit der gesamten Situation. Ich weiß nur noch, dass ich dachte: “Das darf doch nicht wahr sein…”.

Am nächsten Abend traf ich mich mit Clemens in der Stadt. Mir war flau im Magen, denn ich wusste, dass wir reden müssen…

“Wie heißt das Kätzchen?”, fragte er. “Lilly!”. “Dann hab ich jetzt einen Titel für mein neu komponiertes Stück: “Für Lilly”, strahlte er mich an. Der Kloß im Hals war zurück.

Es war dunkel, als sich Clemens auf dem Marktplatz vor mich hin kniete und seine Liebe gestand. Er sagte all das, was ich mir zwei Jahre zuvor so sehnlichst gewünscht hatte, von ihm zu hören! Mir kullerten die Tränen. “Was für eine Scheiße. Wir haben uns verpasst”, sagte ich irgendwann leise.

Es folgten schreckliche Wochen. Clemens hatte Liebeskummer und ich trauerte unserer Freundschaft nach.

Das Kapitel Clemens endete.

Lilly blieb. Fast mein halbes Leben.

In den letzten rund 17 Jahren ist in meinem Leben so viel passiert: Erste lange Beziehungen, missglückte Freundschaften, sieben Umzüge, Leben auf zwei Kontinenten. Ich habe geheiratet und drei Kinder bekommen. Auch sie lernten meine Katzendame Lilly kennen und spielten mit ihr bei jedem Besuch am Bodensee.

Jedes Mal, wenn ich dort im Garten stand und ein paar Mal laut und mit hoher Katzen-Ruf-Quietschstimme  “Lilly”  rief, kam sie schnurrend angetrottet.

Lilly war mir nicht nur eine treue, langjährige Freundin und Zeitzeugin meines Erwachsenwerdens, sondern für mich auch ein Symbol der ersten stürmischen, unbedachten und herrlich naiven Jugendliebe.

Das darf doch nicht wahr sein: Hirnschäden von Profifußballern wichtiger als die misshandelter Frauen?

Ehemalige Profifußballer sterben – statistisch gesehen – dreieinhalbmal häufiger an Demenz als Menschen derselben Altersgruppe in der Allgemeinbevölkerung. Das mit jahrelangem Kopfballspiel zusammenhängende Phänomen ist bekannt und gut erforscht. Doch der Zusammenhang zwischen Demenz und traumatischen Hirnverletzungen durch Gewalt in Paarbeziehungen ist nahezu Neuland – dabei ähneln sich die Krankheitsverläufe. Eine Studie soll für Aufklärung sorgen.

Von Sarah Kessler

Der schottische Neuropathologe Willie Stewart ist renommierter Autor einer Vielzahl an Forschungsarbeiten zum Thema Fußball und Demenz. Seit 2021 leitet er die Untersuchung über die lebenslangen Folgen körperlichen Missbrauchs auf das Gehirn. In Großbritannien wird damit zum ersten Mal eine umfassende Studie durchgeführt, die die langfristigen Gesundheitsrisiken für das Gehirn im Zusammenhang mit Gewalt in Partnerschaften untersucht.

Im Rahmen dieser Drake-IPV-Studie (Öffnet in neuem Fenster) (IPV = Intimate Partner Violence, also Gewalt in Paarbeziehungen) werden Veränderungen in der Neurobildgebung bei von häuslicher Gewalt betroffenen Personen untersucht und mit einer Kontrollgruppe verglichen, die keine Misshandlungsgeschichte aufweist. Ziel ist ein besseres Verständnis der durch häusliche Gewalt bedingten Kopfverletzungen. So will die Forschung unter anderem herausfinden, wie solche Kopftraumata konkret zum Demenzrisiko beitragen können.

Den lebenslangen körperlichen Folgen von häuslicher Gewalt wurde bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt: „Es ist bemerkenswert, dass bis zu 30 Prozent der Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer von patriarchaler Gewalt werden können, aber so wenig darüber bekannt ist“, sagte Stewart dem Guardian (Öffnet in neuem Fenster). „Selbst diese Studie lässt die Leute aufhorchen und sagen: ‚Moment mal, das kann doch nicht stimmen‘.

Aber es stimmt. Leider gibt es nur verschwindend wenige Studien zu Traumata aus häuslicher Gewalt und deren Pathologie.“

Es ist unglaublich: Bei der Fußball-EM der Männer im Jahr 2021 registrierte England knapp 6.000 professionelle Fußballspieler. Gleichzeitig leben etwa 28,5 Millionen Frauen in dem Land. Etwa ein Drittel dieser Frauen ist statistisch mindestens einmal im Leben von häuslicher Gewalt betroffen: das wären 8,5 Millionen betroffene Frauen. Doch das Erkenntnisinteresse der Medizin fokussierte sich bisher auf die kleine Gruppe der Profifußballer.

Das Wissen über die langfristigen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Gesundheit des Gehirns ist deshalb noch immer sehr begrenzt. Hier setzt die Drake-IPV-Studie an: Strukturelle Hirnbildgebungsforschung zeigt Hirnveränderungen bei Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben und lässt vermuten, dass diese Veränderungen mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung zusammenhängen.

Zwar gibt es ein medizinisches Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen traumatischen Hirnverletzungen und einem erhöhten Risiko für neurodegenerative Erkrankungen: etwa drei Prozent der Demenzerkrankungen sind auf solche Hirnverletzungen zurückzuführen. Doch die Forschung hat sich bislang (mal wieder) überwiegend auf die Krankheitsbilder männlicher Patienten fokussiert.   

Die aufgeheizte Situation in Peru

Seit mehreren Monaten wird das Leben in Peru von heftigen Protesten bestimmt – ausgelöst durch ein politisches Chaos, dessen Ursprung Jahrzehnte zurückliegt. Jetzt lehnen sich die Menschen gegen die Mächtigen des Andenlandes auf. Wir erklären die Situation in Peru und gehen der Frage nach, ob es einen Weg aus den blutigen Demonstrationen gibt.

Von Sarah Schulze

“Es ist wichtig, dass gegen die Korruption protestiert wird. Ich hoffe, dass die Demonstrationen erst enden, wenn eine anständige Regierung, die FÜR DAS LAND ist, gewählt wird! DEMOKRATISCH!” So beschreibt der 27-jährige Halbperuaner Leo die Situation im Heimatland seiner Mutter.

Schon seit dem 7. Dezember letzten Jahres herrscht ein absoluter Ausnahmezustand in Peru. An diesem Tag setzte das peruanische Parlament in Lima Präsident Pedro Castillo ab und vereidigte die bisherige Vizepräsidentin Dina Boluarte als seine Nachfolgerin.

Warum setzte das Parlament Castillo ab?

Der ehemalige Präsident, seit Juli 2021 mit knapper Mehrheit zum Präsidenten gewählt, stand unter mehrfachen Korruptionsverdacht und wechselte in nur 17 Monaten fünf Kabinette und über 80 Minister.

In seiner Amtszeit entging er knapp zwei Amtsenthebungsverfahren. Ein drittes Verfahren durch das Parlament stand Ende letzten Jahres kurz bevor. Um diesem zuvorzukommen, versuchte Castillo das Parlament selbst aufzulösen und per Notstandsdekret weiter zu regieren.

Rein von den Kräfteverhältnissen hätte er dazu Polizei und Militär auf seiner Seite benötigt, um mit Gewalt weiter regieren zu können – doch die gaben dem Parlament Rückendeckung.

Sowohl Politiker:innen der Regierung als auch der Opposition stellten sich gegen ihn und setzten Castillo wegen “moralischer Unfähigkeit” ab.

Die Staatsanwaltschaft erließ wegen seines “Putschversuches” Haftbefehl gegen ihn. Castillos umgehend vom Parlament ernannte Nachfolgerin Boluarte kommentierte das Geschehen so: „Dies ist ein Staatsstreich, der die politische und institutionelle Krise verschärft, die die peruanische Gesellschaft unter strikter Einhaltung der Gesetze überwinden muss“, erklärte sie über Twitter.

Mit Boluarte hat das Andenland sein sechstes Staatsoberhaupt innerhalb von fünf Jahren; viele der ehemaligen Präsidenten der letzten Jahrzehnte sind wie Castillo der Korruption bezichtigt. Die jetzige Krise ist eine weitere Eskalation für das Land – aber eine mit neuen Dimensionen.

Warum resultierte die Absetzung in heftigen Unruhen?

Castillos Absetzung und Inhaftierung schürte die Wut vor allem der ländlichen Einwohner gegen die Elite Perus. Der Bevölkerungsgruppe auf dem Land hatte Castillo seine Präsidentschaft zu verdanken. Viele sehen in ihm einen von ihnen: Der ehemalige Präsident stammt aus ärmlichen Verhältnissen, war vor seiner Präsidentschaft Lehrer und sprach nicht nur mit seiner Herkunft, sondern auch mit seinen links- bis linkspopulistischen, oftmals sehr radikalen Positionen diesen Teil der peruanischen Bevölkerung an.

Deshalb reagierten sie mit heftigen Protesten und Unruhen auf die Eskalation der politischen Krise im Dezember. Daraus entwickelte sich ein politischer Tsunami: Mittlerweile geht es um viel mehr als um die Verhaftung Castillos. Die Unruhen werden durch den seit langem bestehenden Frust über die hohe Armut, die bestimmende Korruption der Mächtigen im Land und die Diskriminierung vieler vor allem indigener Menschen in den peruanischen Anden- und Amazonasregionen angeheizt.

Nach Jahren der Misswirtschaft, immer wiederkehrender Korruptionsvorwürfen gegen viele Parlamentarier und Machtkämpfe herrscht ein tiefes Misstrauen gegenüber den Politikern in Lima. Der Kongress, der als korrupt und eigennützig gilt, hat laut einer Umfrage des lokalen Meinungsforschungsinstituts IEP vom Januar eine Zustimmungsrate von nur 7%.

Welche Auswirkungen haben die Unruhen?

Die Unruhen haben sich längst zu gewaltsamen Konfrontationen in vielen Landesteilen, auch in der Hauptstadt Lima, zwischen Protestlern und Polizei sowie Militär entwickelt. Die Demonstrierenden blockieren dabei immer wieder Straßen, besetzen Flughäfen und setzen Gebäude in Brand, um den Rücktritt Boluartes, die Auslösung des Parlaments, eine neue Verfassung und die Freilassung Castillos zu fordern. Die peruanischen Sicherheitskräfte sperren Straßen, Plätze und Gebäude; schlagen die Demonstrationen immer wieder – häufig gewaltsam – nieder. Fast 50 Menschen wurden inzwischen dabei getötet. Laut Amnesty International sind die meisten Todesopfer durch Gewalt von Sicherheitskräften ums Leben gekommen.

Durch die immer wieder aufflammenden blutigen Auseinandersetzungen, Demonstrationen und Straßensperrungen ist in einem Drittel des Landes der Notstand ausgerufen worden. Viele Länder haben aufgrund der angespannten Sicherheitslage eine Reisewarnung für Peru ausgesprochen – so auch das Auswärtige Amt in Deutschland. Diese sind ein schwerer Schlag für den Tourismus in Peru, der ein essentieller Wirtschaftsfaktor für das Land ist.

Wie geht es nun weiter?

Der Halbperuaner Leo sagt, dass die Stimmung in dem Land von Tag zu Tag mehr kippt, die Proteste immer heftiger werden. Seine Familie, die im Stadtteil Condeville in der Hauptstadt Lima wohnt, gehe selbst nicht protestieren – zu groß ist die Angst, verhaftet zu werden. Seine Mutter war mit seinen Tanten auf einer Demonstration von Peruaner:innen in Bonn. Die deutschen Medien haben über diese symbolischen Proteste (weitere fanden in Frankfurt statt) nicht berichtet.

Eine IEP-Umfrage ergab, dass sich 73% der peruanischen Bevölkerung noch in diesem Jahr Neuwahlen wünschen – auch Analysten und andere Beobachter sehen darin einen Weg aus den Protesten. Das Parlament unterstützte zunächst die Verlegung der offiziell für 2026 geplanten Wahlen auf April 2024, Präsidentin Boluarte will die Bevölkerung aber bereits in diesem Jahr an die Wahlurnen bitten. Die Parlamentarier lehnten ihren Antrag jedoch Ende Januar ab.

Und auch wenn die Neuwahlen doch noch 2023 abgehalten werden sollten: Die tiefliegenden politischen und gesellschaftlichen Probleme in Peru lösen sie wohl kaum in naher Zukunft.

Die Welt im Spotlight

1. Wegen Protesten in Peru: Machu Picchu geschlossen

Was zum UNESCO-Kulturerbe gehört und jährlich mehr als 1,5 Millionen Besucher:innen anzieht, ist nun bis auf Weiteres für Tourist:innen geschlossen – die berühmte peruanische Inka-Ruinenstadt Machu Picchu. Das entschied nun das Kulturministerium Perus „angesichts der aktuellen sozialen Lage in unserer Region”, wobei es sich im Einzelnen um heftige Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden, die unter anderem den Rücktritt der Übergangspräsidentin Dina Boluarte fordern, und der Polizei handelt. Mehr als 200 Personen sollen laut Medienberichten bei der Räumung einer Universität in Lima festgenommen worden sein. Der Vorwurf: Illegales Eindringen auf das Gelände der entsprechenden Hochschule, um an den Protesten teilzunehmen. Die am Machu Picchu gestrandeten Tourist:innen konnten dagegen wohlbehalten nach Cusco gebracht werden.

Bereits im Dezember hatte die peruanische Politik den Zugang zu Machu Picchu aufgrund von Spannungen verwehrt. Damals war es unter anderem zu Straßenblockaden und massiven Beeinträchtigungen im Flugverkehr gekommen, mehrere Menschen kamen ums Leben. Kein Wunder, dass das Auswärtige Amt mit Blick auf diese Vorfälle von nicht notwendigen Reisen nach Peru derzeit abrät.

Derweil ruft die UN die Polizei des Andenstaates zur Verhältnismäßigkeit auf.

2. Großbrand in Seoul: Massenevakuierung von südkoreanischem Slum erfolgreich

Nach der Halloween-Tragödie in Seoul mit mehr als 150 Toten vor wenigen Monaten hatte die Hauptstadt Südkoreas vor wenigen Tagen mit einem Großbrand in einer ihrer letzten Barackensiedlungen zu kämpfen. So war vor knapp zwei Wochen in der im Süden Seouls liegenden Siedlung Guryong ein Feuer ausgebrochen. Erst mit 53 Löschfahrzeugen und zehn Hubschraubern soll das Drama letztlich ein Ende gefunden haben.

Während etliche Behausungen niederbrannten, sollen die Flammen jedoch weder Todesopfer noch Verletzte gefordert haben. Vielmehr konnten 500 Menschen aus insgesamt knapp 660 Haushalten gerettet werden. Diejenigen von ihnen, die nun ohne Dach über dem Kopf dastehen, verbringen die Nächte seitdem in Hotels in der 9,45-Millionen-Metropole.

Guryong liegt neben dem Bezirk Gangnam, das auch als „Reichenviertel” bekannt ist. Errichtet worden war der Slum als Folge moderner Stadtplanung in den achtziger Jahren. Nachdem dort 2014 schon einmal ein Feuer ausgebrochen war, war zunächst eine Neustrukturierung des Gebiets und eine Umsiedlung der Bewohner:innen angedacht worden. Die Pläne wurden jedoch nie umgesetzt.

3. Élysée, juchhe! – Frankreich und Deutschland feiern 60 Jahre Freundschaft

Der 22. Januar bietet für Frankreich und Deutschland einen besonderen Anlass zur Freude. Schließlich unterzeichneten die jeweiligen Regierungen an diesem Tag im Jahr 1963 im Élysée-Palast den nach dem Ort des Geschehens benannten Élysée-Vertrag, der die Freundschaft der beiden Länder besiegelt. Umso gebührender wurde vor wenigen Wochen das 60-jährige Bestehen dieses politischen Fundaments gefeiert. Sowohl Bundeskanzler Olaf Scholz als auch etliche Kabinettsmitglieder waren angereist, um an der Seite des Präsidenten des Nachbarlandes, Emmanuel Macron, einem Festakt an der berühmten Sorbonne-Universität in Paris beizuwohnen. Dabei appellierte Scholz, dass sich „kein kleines, verzagtes Europa” mehr geleistet werden könne, und auch Macron betonte noch einmal die wichtige Stellung der beiden Staaten für eine Neugründung Europas.

Trotz der engen Bindung Frankreichs und Deutschlands waren in den vergangenen Monaten immer wieder Spannungen aufgekommen. So hatte Macron erst vor wenigen Monaten noch den Vorwurf bezüglich einer möglichen Isolation Deutschlands von Europa im Zuge der Energiekrise geäußert. Auch bezüglich der Panzer-Lieferungen hatte es Unstimmigkeiten gegeben

Die Welt im Spotlight

Durchsuchungen der Büros des BBC in Indien

Aufgrund des Vorwurfs von Steuerhinterziehung ordnete die indische Regierung eine Durchsuchung von Büroräumen des britischen Senders BBC in Indien an. Über drei Tage wurden Arbeitsutensilien wie Handys und Laptops beschlagnahmt und auf mögliche Beweise durchsucht.

Die Razzia wird von Kritikern als Vergeltungsschlag der Regierung interpretiert, denn zuvor hatte der Sender eine zweiteilige Dokumentation veröffentlicht, in der das Verhalten des amtierenden Präsidenten Narendra Modi bei Protesten im Jahr 2002 aufgearbeitet wurde. Damals waren bei islamfeindlichen Ausschreitungen über 1000 Menschen ums Leben gekommen. Modi, so das Ergebnis der Recherchen, habe damals zur “gewaltsamen Lösung” der Proteste angestiftet. Zudem zieht der Sender im zweiten Teil der Dokumentation eine Bilanz der Modi-Regierung nach der Wiederwahl im Jahr 2019.

Der Sprecher der hindu-nationalistischen Regierungspartei bezeichnet den Sender BBC als „die schlimmste Rundfunkanstalt der Welt“ und den Dokumentarfilm als Propaganda. Schon immer sei der Sender auf die Verdunkelung der indischen Regierung aus und spiegele das wider, was die Opposition über die Regierung zu sagen habe.

Deshalb, so der Sprecher, ließe die indische Regierung den Dokumentarfilm sperren, sodass nach eigenen Angaben keine Propaganda verbreitet werden könne.

Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ sieht in der Durchsuchung der Büros einen Angriff auf die Pressefreiheit.

2. Rücktrittsankündigung der schottischen Premierministerin Sturgeon

Die Premierministerin Schottlands Nicola Sturgeon kündigte am 15. Februar ihren Rücktritt an, sowohl als Premierministerin als auch als Parteichefin der Schottischen Nationalpartei (SNP). Für viele kommt der Rücktritt überraschend, denn eines ihrer konkret verfolgten Hauptziele, die Unabhängigkeit Schottlands, hat sie bisher nicht erreichen können. Sie begründet die Entscheidung mit dem enormen Druck, der auf ihr laste. Sie beklagte, kaum noch Privatsphäre zu haben, da die aktuellen Debatten nicht nur auf der Sachebene ausgetragen würden. Sie sei nicht nur Politikerin, sondern auch Mensch.

Diese Anspielung kann verschieden interpretiert werden, überwiegend geht man aber davon aus, dass die Entscheidung zum Rücktritt mit der Kritik an der Gender-Reform der Premierministerin zusammenhängt, für die das schottische Parlament im Dezember 2022 gestimmt hatte.

Die „Gender Recognition Reform Bill“ soll es erleichtern, den Geschlechtseintrag auf offiziellen Dokumenten zu ändern. Beispielsweise muss  künftig  zum Umtragen im Dokument kein medizinisches Gutachten mehr vorliegen. Außerdem können künftig schon Menschen ab 16 Jahren ihr Geschlecht in offiziellen Dokumenten ändern. Bisher war dies erst ab 18 Jahren möglich. Die Reform sorgte für Spannungen zwischen der schottischen Regierung und der Zentralregierung Großbritanniens, Sturgeon stand als Verteidigerin der Reform hart in der Kritik.

Sie beteuert aber, dass ihr Rücktritt keine aktuellen politischen Gründe habe und lobte in ihrer Ansprache die Erfolge, die sie im Bereich Bildung für sozial Benachteiligte oder der Zugänglichkeit des Arbeitsmarktes für Frauen erzielt habe.

3. Freilassung politischer Gefangener in Nicaragua

Insgesamt 222 politische Gefangene wurden von der autoritären Regierung des zentralafrikanischen Staates Nicaragua freigelassen. Im selben Zuge entzog man ihnen die Staatsbürgerschaft und schob sie in die USA ab. Unter den Ausgebürgerten sind Journalisten, Diplomaten, Politiker oder Menschenrechtler:innen, die das Regime als “Verräter des Vaterlandes” bezeichnet. Berichten zufolge holte man sie nachts aus ihren Zellen und brachte sie in Bussen an den Flughafen, von dort aus wurden sie von den USA ausgeflogen. Aus humanitären Gründen dürfen die ehemaligen Flüchtlinge laut der Nachrichtenagentur AP zunächst für zwei Jahre in den USA bleiben. Spanien bietet ihnen die spanische Staatsbürgerschaft an.

Das autoritäre Regime des amtierenden Präsidenten Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo verfolgt Oppositionelle, verhängt Haftstrafen und geht auch gegen Dissidenten im Exil vor. 2018 schlug das Regime Proteste gegen selbiges blutig nieder. Tausende wurden verletzt, rund  350 Menschen starben.

Die internationale Gemeinschaft verurteilte das Vorgehen, sanktionierte die Familie des Diktators und forderte eine Rückkehr zur Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte.

Mutmaßlich entließ der Diktator die Gefangenen, um eine Aufhebung dieser Sanktionen zu erreichen, dies bleibt allerdings Spekulation. Medienberichten zufolge soll die Entlassung der Gefangenen durch Ortega ohne Gegenleistung erfolgt sein.

Die Welt im Spotlight

Georgien: Massenproteste gegen “Agenten-Gesetz”

Nachdem die georgische Regierungspartei “Georgischer Traum” die erste Lesung eines umstrittenen Gesetzes vollzog, gingen tausende Georgier:innen in der Hauptstadt Tiflis auf die Straße, um das Inkrafttreten des anti-demokratischen Gesetzes zu verhindern: Nach diesem müssten sich Medien, die sich zu 20 Prozent oder mehr aus dem Ausland finanzieren, als sogenannte “ausländische Agenten” registrieren. Eine Liste dieser “Agenten” soll öffentlich zugänglich sein.

von Lena Spilger

Im Jahr 2012 verabschiedete Russland ein ähnliches Gesetz, das unabhängige Meinungen unterdrücken soll, 2008 besetzte Russland ungefähr ein Fünftel des georgischen Staatsgebietes. Es folgte der 5-Tage-Krieg, der die Beziehungen zwischen der EU, Russland und den USA stark strapazierte.

Der Chef der Regierungspartei Irakli Kobachidse versichert, es handle sich bei dem Gesetz ausschließlich um eine Maßnahme zur Transparenz, die Öffentlichkeit solle wissen, wer in Georgien “extremistische Organisationen” finanziere. Die Vorlage für dieses Gesetz sei nicht russisch, sondern US-amerikanisch. Der “Foreign Agents Registration Act”, damals eine Reaktion auf Propagandisten Hitler-Deutschlands.

Tatsächlich wurde das Gesetzgebungsverfahren als Reaktion auf die andauernden Proteste, in deren Rahmen es auch Verletzte und Verhaftete gegeben hat, zunächst auf Eis gelegt. Die bekannteste Gegnerin der Gesetzesreform ist die direkt gewählte georgische Präsidentin Salome Surabischwili, die seit dem Jahr 2018 im Amt ist und das Durchkommen des Gesetzes mit ihrem Veto unterdrücken kann. Entgegen der gen Russland gerichteten Regierungspartei steht sie, wie ein Großteil der georgischen Bevölkerung, für einen pro-westlichen Kurs und setzt sich außerdem für einen EU-Beitritt ein. Ein Gesetz wie dieses würde einen EU-Beitritt allerdings unmöglich machen. Doch genau ein solches Beitreten wünschen sich viele Georgier:innen, die mit EU-Flaggen demonstrieren, aus Solidarität die ukrainische Hymne singen und weiterhin auf die Straßen gehen.

Estland: Partei von Regierungschefin Kallas gewinnt Parlamentswahlen

Kaja Kallas, die erste Frau an der Regierungsspitze Estlands, wird in ihrem Amt bestätigt. Ein Land mit einer 300 Kilometer langen Grenze zu Russland gibt der pro-westlichen Reformpartei 31,2 Prozent der Stimmen. Die Politik Kallas’, die sich eindeutig gegen Russland wendet und für die Ukraine steht, findet starken Zuspruch in der Bevölkerung. Damit rückt Estland politisch noch näher an den Westen und sendet Putin ein eindeutiges Zeichen – und das, obwohl ein Viertel der Bevölkerung russischstämmig ist.

Nun steht Kallas vor der Koalitionsbildung, wobei sie viele Möglichkeiten zur Auswahl hat. Aktuell koaliert die bürgerlich-liberale Partei mit der konservativen Partei Isamaa und den Sozialdemokraten, die allerdings als Verlierer aus der Wahl hervorgehen. Die zweit- und drittstärkste Kraft der Wahlen sind zwei Oppositionsparteien, zum einen die rechte Partei EKRE und die linksgerichtete Zentrumspartei. Eine Koalition mit EKRE, die im rechtspopulistischen Stile laut “Wahlbetrug” ruft, zieht Kallas ausdrücklich nicht in Betracht.

Norwegen: Proteste wegen Windkraftanlagen und Menschenrechten

Das indigene Volk der Samen protestiert in Oslo gegen den Betrieb zweier Windkraftanlage in der Region Fosen im Norden des Landes. Der Betrieb ist seit mehr als 500 Tagen illegal. 2021 befand der Gerichtshof nach Klagen der Samen, dass die Turbinen der Windräder die zur Kultur gehörende Rentierzucht der Samen störe und deshalb ein Recht des indigenen Volks verletze. Folglich erklärte das Gericht die Betriebslizenz der Parks als ungültig.

Samische Aktivisten fordern nun ihr Recht ein und protestieren, unter anderem belagern sie die Eingangshalle des Energie- und Ölministeriums. Sie verlangen, dass der größte landgebundene Windpark Europas stillgelegt wird. An deren Seite protestiert überraschenderweise auch Greta Thunberg, die Klimagerechtigkeit unter diesen Bedingungen nicht realisiert sieht.

Die Regierung bezog lange keine Stellung zur Situation der samischen Minderheit im Norden des Landes, wofür sie hart in der Kritik steht. Dass sich der Premierminister Jonas Gahr Støre nun für die Menschenrechtsverletzung entschuldigte, sei aber ein Schritt in die richtige Richtung, findet die Präsidentin des Samen-Parlaments Silje Karine Muotka. Anstatt der Forderung der Samen nachzukommen, beantragen die norwegischen Behörden nun zunächst weitere Gutachten. Sollten die Windräder nicht bald abmontiert werden, planen die Aktivist:innen weitere Demonstrationen.

Lebens-Jaaaa! Warum ich jedes Lebensjahr als Geschenk sehe

“Mensch, nächste Woche ist Dein Geburtstag”, sagte ich zu einer Freundin kürzlich. “Mhhm. Schon wieder ein Jahr älter”, stimmte sie kleinlaut zu.

“Willst Du lieber schon tot sein?”.  Lisa guckte mich empört an: “Wie meinste denn das jetzt?”.

“Na, was ist denn die Alternative?”, fragte ich sie.

Schon als Jugendliche fand ich es merkwürdig, wenn sich Erwachsene über ihr Alter beschweren.

“Oh Gott, ich werde schon 38!”

“Noch drei Jahre, dann habe ich die große 6 vorne stehen.”

Ich verstand es nicht, denn die einzige Alternative zum Älterwerden bedeutet doch: Jung zu sterben.

Jung zu sterben.

Ich empfinde jedes Lebensjahr als Geschenk; kenne ich doch Menschen, die sich nichts sehnlicher gewünscht haben oder wünschen, als lange zu leben und dabei fit zu bleiben.

Die dankbar sind für jedes gut gelebte Jahr.

Ich liebe es, jeden Tag älter zu werden. Ich lerne mich immer besser kennen, wachse und werde gelassener. Und ich finde häufig andere Menschen wesentlich spannender, die schon etwas reifer sind, etwas erlebt und zu erzählen haben.

Andere hingegen möchten am liebsten ihren Geburtstag aus dem Kalender streichen.

Warum ist das also so, dass manche Menschen Probleme mit dem Älterwerden haben und andere wiederum nicht?

“Menschen haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie alte Menschen sind und was passieren wird, wenn sie älter werden. Diese Vorstellungen entwickeln sich sehr früh und werden dann erstmal relativ wenig hinterfragt. Wenn man dann selbst älter wird und bestimmte Veränderungen bemerkt (bei sich oder anderen), verwendet man diese Vorstellungen, um die Veränderungen zu interpretieren”, sagt mir die Psychologin und Altersforscherin Prof. Dr. Anna Kornadt. “Wenn ich z.B. denke, dass man im Alter vergesslicher wird, interpretiere ich das Vergessen der Einkaufsliste eher als Alterserscheinung und nicht als Tagesform (…) Oder wenn ich denke, dass man mit dem Alter unattraktiver wird und mir meine Attraktivität sehr wichtig ist, habe ich vielleicht eher Probleme damit als andere. ”

Da diese Vorstellungen und Erwartungen ans Alter unterschiedlich seien, blickten manche eben negativer, andere positiver aufs Älterwerden.

Wenn ich mich in meinem Umfeld umschaue, fällt mir auf: Jene werden nicht gerne älter, die hoffen, dass sich bestimmte Dinge in ihrem Leben noch erfüllen. Zum Beispiel den/die richtige/n Partner:in zu finden oder endlich Eltern zu werden. Andere hingegen bereuen es, gewisse Dinge getan oder eben nicht getan zu haben. Trauern verpassten Chancen hinterher oder sind mit dem Status Quo in ihrem Leben unzufrieden.

Was können diese Menschen tun, um zufriedener älter zu werden und dies als Privileg und Geschenk anzunehmen?

“Wir wissen, dass es Menschen besser geht, wenn sie es schaffen, sich von nicht (mehr) erreichbaren Zielen abzulösen und ihre Ressourcen und Energie auf andere, neue Ziele zu lenken.“, sagt die Altersforscherin und fügt direkt hinzu: “Das ist natürlich leichter gesagt als getan und bei manchen, zentralen oder nicht ersetzbaren Zielen schwieriger als bei anderen.”

Die gute Nachricht:

Im Alter werde diese Fähigkeit aber üblicherweise ausgeprägter, d.h. ältere Menschen lösen sich eher von solchen nicht erreichbaren Zielen, anstatt sie hartnäckig weiterzuverfolgen.

Übrigens, die Zufriedenheit in vielen Lebensbereichen wie Freizeit oder sozialen Beziehungen steigt sogar im Alter.

Sich mit seinem Alter auseinanderzusetzen und dafür vorzusorgen, Pläne zu machen, sich erreichbare Ziele zu setzen, kann helfen, dass man nicht mehr so große Angst vor dem Alter hat.

Mit einem differenzierten, realistisch positiven Bild auf das Alter zu blicken, helfe auch die Einschränkungen, die vielleicht tatsächlich kommen, verarbeiten zu können, gibt die Altersforscherin als Tipp.

Anti-Aging war gestern: Happy and healthy aging is the way to go! Und das gelingt, wenn man im Kopf und im Körper in sich ruht.

Warum die Geburt eines Eisbärenbabys bei mir gemischte Gefühle auslöst

“Gott, ist das niiiiiieeeedlich!” Ich höre sie schon, die verzückten Zoobesucher:innen. Sie werden schon bald das Eisbärenbaby bewundern, das vor wenigen Tagen in Hagenbecks Tierpark in Hamburg das Licht der Welt erblickte. Diese wuscheligen Wesen sind ja auch wirklich zu knuffig! Wem geht nicht das Herz auf beim Anblick eines tapsigen Bärenbabys mit weißem Fell und dunklen Knopfaugen? 

Ich erinnere mich noch, welchen Hype 2007 der kleine Eisbär Knut auslöste. Er bescherte dem Berliner Zoo jahrelange Besucherrekorde – bevor er mit nur 4 Jahren starb.

Die Euphorie nach der Geburt eines Eisbärenbabys im Zoo – bei mir hinterlässt sie stets ein Störgefühl, einen bitteren Nachgeschmack. Denn was feiern wir hier eigentlich?

Dass eine selbst im Hamburger Zoo geborene Eisbärin rund 20 Jahre später ein Junges zur Welt bringt, das nun seinerseits sein Leben hinter Gittern und Gräben verbringen muss? Mich macht das traurig, denn vergessen wir nicht: Eisbären sind Raubtiere. Die Reviere der Robbenjäger können sich in freier Wildbahn über einen Radius von mehr als 100 Kilometern erstrecken. Die schier unendliche Weite der Arktis – kein noch so schönes Außengehege im Zoo kann es ersetzen!

Trotzdem werden auch meine drei kleinen Kinder das Eisbärenbaby im hiesigen Tierpark bestaunen wollen. Und dabei gewiss eine Menge lernen über diese tollen Kreaturen: wovon sie sich ernähren, wie sie sich fortpflanzen – und warum ihr Lebensraum durch uns Menschen massiv bedroht ist. 

Das dämpft meine innere Zerrissenheit bei einem Zoobesuch ein wenig: die Hoffnung, dass meine Kinder beim Anblick gefangener Tiere die Notwendigkeit von Umweltschutz spüren. Dass es sie drängt, die natürlichen Lebensräume zu bewahren, den für Eisbären schon jetzt lebensbedrohlichen Klimawandel zu stoppen. Dann wäre der kleine Eisbär bei Hagenbecks Tierpark ein Botschafter für das Überleben seiner in Freiheit ums Überleben kämpfenden Artgenossen.

Die gefährlichste Fluchtroute der Welt

Seit Jahrzehnten sterben flüchtende Menschen bei der Überfahrt über das Meer. Seit 2014 steigt die Zahl der Todesopfer und spurlos verschwundenen Menschen immer weiter – nach offiziellen Zahlen waren es seitdem über 21.000 Menschen, die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich darüber.

Sie riskieren ihr Leben, weil sie ihre Heimat verlassen müssen und Schutz in Europa suchen. Die Mittelmeerroute gilt inzwischen als gefährlichste Fluchtroute weltweit. Ohne die zivile Seenotrettung wäre diese Situation noch dramatischer.

Über (zivile) Seenotrettung

Vor einigen Jahren gab es staatliche Rettungsoperationen (z.B. „Mare Nostrum“ – Italien, „Triton“ – EU), die aber alle wieder nach kurzer Zeit eingestellt wurden. Seitdem übernehmen ausschließliche private Organisationen die Seenotrettung: u.a. Sea Watch, Sea Punks, Mission Lifeline, Ärzte ohne Grenzen.

Die EU-Mitgliedsstaaten können sich nicht auf eine Weiterverteilung von geretteten Menschen einigen, dadurch gehen viele Regierungen streng gegen zivile Seenotrettung vor. Es werden Schiffe beschlagnahmt und hohe Geldstrafen müssen gezahlt werden. Aktuell verschärft sich die Situation durch die neue rechte Regierung in Italien extrem. Italienische Behörden haben erst kürzlich dafür gesorgt, dass mehrere Schiffe tagelang warten mussten, bevor die geretteten Menschen an Land gehen durften.

Die Situation wird uns auch in den nächsten Jahren beschäftigen, denn sie verschärft sich. Wissenschaftler:innen weisen immer wieder auf die Zusammenhänge von Klima, Konflikten, Kriegen und Migrationsbewegungen hin.

Wir brauchen also dringend Lösungen, um die Situation für Flüchtende zu verbessern. Dazu gehört zum Beispiel, dass sichere Fluchtwege geschaffen werden, dass die wichtige Arbeit der zivilen Seenotrettung nicht kriminalisiert werden darf und dass es auch staatliche Lösungen gibt.

Die Brüder Benjamin, Raphael und Gerson Reschke haben im Herbst 2019 Sea Punks e.V. (Öffnet in neuem Fenster)gegründet. Sie retten mit einem privat gekauften Schiff Menschen. Inzwischen ist daraus ein Verein gewachsen. Sie möchten Menschen helfen, die ihre Heimat verlassen, um vor Krieg, Gewalt, Armut und Ausbeutung zu fliehen. 

Wir haben bei Gerson Reschke nachgefragt, wie der Alltag auf einem Rettungsschiff aussieht, was sich bei der (zivilen) Seenotrettung ändern muss und wie jede:r von uns die Arbeit unterstützen kann.

Wie sind die Aufgaben auf dem Schiff verteilt?

“Der Verein besteht aus einem sehr bunten Mix an Menschen und Begabungen, so ist das dann auch auf dem Schiff. Die Projektleitung und Daueraufgaben wie die Wartung der Maschine werden von Leuten aus dem Verein übernommen, der Rest der Aufgaben, meist handwerklicher Art, von Freiwilligen. Im Einsatz sieht das dann ähnlich aus, auch für die Rettungsrelevanten Aufgaben gibt es einen großen Pool an Menschen, die ihre Freizeit dafür hergeben.”

Wie groß ist die Besetzung? Und wie sieht der Alltag auf See aus?

“Wir fahren üblicherweise mit 12 Personen. Dazu gehören Kapitän:in und Nautiker:innen, Maschinist:innen, ein medizinisch geschultes Team, eine Einsatzleitung, Rettungsboot-Fahrer:innen und ein Medienmensch. Auf dem Schiff wird – solange noch kein Rettungseinsatz stattfindet – in Schichten gearbeitet. Die Positionen sind nach Möglichkeit mindestens doppelt besetzt, damit alle 4 Stunden gewechselt werden kann. Während sich einige um den Betrieb des Schiffes und die Navigation kümmern, halten andere Ausguck. Manchmal kommen die Meldungen über Seenotfälle von Organisationen wie Alarmphone oder Beobachtungsflugzeugen, oft werden sie aber auch selbst entdeckt. Ab diesem Moment ist es dann mit den Ruhepausen erst einmal vorbei.”

Und wie ist der Ablauf eines Rettungseinsatzes?

“Nachdem ein Fall entdeckt wurde, wird er bei der jeweiligen Leitstelle gemeldet (je nachdem, wo man sich gerade befindet, liegt die Zuständigkeit bei Malta oder Italien) und das Schiff fährt los. Währenddessen wird alles vorbereitet: Das Beiboot wird startklar gemacht, die Rettungswesten zusammengepackt. Das eigentliche Rettungsschiff bleibt erst einmal in einem größeren Abstand zum Seenotfall, um zu verhindern, dass Menschen ins Wasser springen, um den Rest des Weges zu schwimmen. Also fährt zunächst das Beiboot voraus, stattet alle Menschen mit Rettungswesten aus, beruhigt die Situation und bringt dann nach und nach die Menschen aufs Schiff. Dort werden sie dann versorgt: Meist sind viele der Geretteten dehydriert, erschöpft und verletzt. Entweder, sie wurden in Libyen misshandelt oder haben auf der Überfahrt gelitten. Das ärztliche Team kümmert sich um die medizinische Versorgung, andere geben trockene Kleidung, Getränke und Essen aus, um die dringendsten Bedürfnisse zu stillen. Danach beginnt dann die Auseinandersetzung mit den Behörden: Fragen, fragen, fragen. Betteln, dass irgendein Hafen sich bereit erklärt, seine Pflicht zu erfüllen: Den aus Seenot geretteten Menschen schnellstmöglich einen sicheren Hafen zu bieten.”

Was muss sich dringend bei der Seenotrettung ändern?

“Das finde ich ein schwieriges Thema, weil da viele kleine Schritte sehr dringend nötig sind, aus meiner Sicht aber langfristig noch viel mehr strukturelle Veränderungen gebraucht werden. Als ersten Schritt sollten sich die europäischen Staaten endlich mit Italien einig werden, damit die privaten Rettungsorganisationen nicht mehr daran gehindert werden, ihre Arbeit zu tun. Zudem muss sich dringend ändern, dass Privatleute diese Arbeit machen, die eigentlich eine staatliche Aufgabe sein sollte – so wie es auch noch vor einigen Jahren verstärkt getan wurde. Das eigentliche Problem ist aber doch, dass Menschen, die aus unfassbar schlimmen Lebenssituationen fliehen, diesen lebensgefährlichen Weg auf sich nehmen müssen. Es müssen Wege geschaffen werden, dass Menschen in ihrem Heimatland Asylanträge stellen können, beispielsweise in der Botschaft eines europäischen Landes. Man muss sich das mal vorstellen: eine Reise, die uns 500€ kostet und maximal 2 Tage dauert, kann einen Menschen auf der Flucht 2 Jahre und 5000€ kosten. Ich weiß, dass das utopische Wünsche sind. Dabei geht es eigentlich „nur“ um ein wenig mehr Gerechtigkeit.”

Und wie kann jede:r einzelne von uns unterstützen?

“Am wichtigsten ist: Informiert euch und sprecht darüber. Je mehr Menschen sich mit dem Thema beschäftigen und darüber reden, desto mehr Druck entsteht in der Politik. Aber auch Spenden oder ehrenamtliche Hilfe sind natürlich wichtig. Ich will da gar nicht zu konkret werden, die persönlichen Kapazitäten sind da sehr unterschiedlich. Zu fast jedem Thema gibt es in der eigenen Region Gruppen, Initiativen, Vereine, die schon aktiv sind und sich über neue Unterstützer:innen freuen. Einfach mal anschreiben, dann sieht man, wo man helfen kann.”

Danke, Gerson!

Hier könnt ihr spenden und euch informieren:

Sea Watch https://sea-watch.org/spenden/ (Öffnet in neuem Fenster)

Sea Punks https://seapunks.de/spenden/ (Öffnet in neuem Fenster)

Mission Lifeline https://mission-lifeline.de/spenden/