Vergessene Krisen: Der Libanon kollabiert gerade, die Weltbevölkerung aber bekommt kaum etwas davon mit
In ihrer Stimme liegt Enttäuschung, Abgeschlagenheit und eine Menge Lebenserfahrung, die man niemandem wünscht. Auf dem Platz der Kirche Mar Takla im Beiruter Stadtteil Sad El Baouchriyeh wird das Klagen von Juliette Marouns immer lauter: „Es ist eine Schande, dass alte Leute sich hier anstellen müssen, wenn sie nicht verhungern wollen“, so die 79-Jährige, die sich in der Schlange der mobilen Suppenküche des libanesischen Malteserordens eingereiht hat. Heute gibt es Linsen, gebratenes Gemüse und Brot – die kostenlose Mahlzeit sei mal wieder ihre Rettung, denn heute habe sie noch nichts gegessen. Juliette Marouns gehört zu dem Großteil der Bevölkerung, der sich ohne Unterstützung von Hilfsorganisationen keine warme Mahlzeit mehr leisten kann. Laut UN leben mittlerweile bis zu 80 Prozent aller Libanes:innen sowie 95 Prozent aller syrischen Geflüchteten im Libanon in Armut.
Von: Edith Löhle

Foto: Daniel Kothoefer
Die aktuelle Situation in dem kleinen Land im nahen Osten, so sagen NGOs, sei eine vergessene Krise. Denn der Weltbevölkerung ist kaum klar, dass sich hier eine humanitäre Katastrophe abspielt: Seit Sommer 2019 rutscht der Libanon nach Jahrzehnten der Misswirtschaft, innenpolitische Machtkämpfe und Korruption immer tiefer in die Krise. Und dann noch Covid19 und die Explosion am Hafen im August 2020, bei der mindestens 200 Menschen starben und 300.000 obdachlos wurden. Mittlerweile hat das libanesische Pfund mehr als 95 Prozent seiner Kaufkraft eingebüßt, Hunderttausende verloren ihre Ersparnisse und ihre Arbeitsstellen. Die Preise für Lebensmittel, Heizmaterial, Medikamente und alle Dinge des einfachen Lebens sind unermesslich in die Höhe geschossen. Die Weltbank spricht von einer der weltweit schwersten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

Foto: Jon Hoekstra
„Ich habe 20 Jahre als Krankenschwester gearbeitet, aber ich bekomme keine Pension. Der Staat behandelt uns wie Tiere. Die Politiker sind Diebe und lassen uns mit allem allein. Wer – so wie ich – keine Kinder und keine Familie im Ausland hat, hat ein schreckliches Leben. Mütter können sich keine Milch mehr für ihre Babys leisten. Alles wird immer teurer. Ich habe deshalb das Gefühl, dass ich ersticke. Ich würde lieber sterben als so weiterzuleben“, fasst Juliette Marouns die prekäre Situation zusammen. Ihr Land sei immer wieder vor Herausforderungen gestanden, so schlimm sagt sie, war es allerdings noch nie. Was sie mit Herausforderungen meint, wird mit einem Blick in die Historie des Libanons klar: Von 1975 bis 1990 forderte der Bürgerkrieg fast 100 000 Menschenleben. Trotz vieler Unruhen, Anschläge und eines weiteren Krieges im Jahr 2006 kam das kleine Land an Mittelmeer langsam wieder zu Kräften. Dann brach im Nachbarland Syrien 2012 der Krieg aus, und rund 1,5 Millionen syrische Geflüchtete strömten in das Land, in dem schon zuvor 250.000 palästinensische Geflüchtete lebten. Damit ist der Libanon das Land mit dem weltweit höchsten Anteil an Geflüchteten – und die seit Jahren bröckelnde Infrastruktur ist mit dem Ansturm komplett überfordert.
„Der Libanon kollabiert vor unseren Augen“, sagt Luise Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Damit Länder wie der Libanon nicht vollkommen aus dem Blick geraten, haben die Johanniter zusammen mit rund 30 deutschen und internationalen Hilfsorganisationen die Kampagne #InDenFokus ins Leben gerufen. Gefördert wird sie vom Auswärtigen Amt. Der Libanon, der Südsudan und Bangladesch stehen dabei stellvertretend für die vielen humanitären Krisen, die medial kaum begleitet werden. Luise Amtsberg ist Schirmherrin der Kampagne und führt fort: „Menschen leiden, auch wenn wir sie nicht leiden sehen. Deswegen ist diese Kampagne so wichtig: Um Leid sichtbar zu machen, aber auch um einen Beitrag dazu zu leisten, es zu lindern.“
Weltweit gibt es Regionen, in denen Menschen unter Hunger, Vertreibung, bewaffneten Konflikte und unzureichendem Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung leiden. Wie schafft man es in Anbetracht der schiefen Weltlage, dass Krisen und somit die Menschen darin nicht vergessen werden? In dem wir uns ihre Gesichter merken, ihre Geschichten, wie die von Juliette Marouns, in den Fokus rücken: Eine Krise gilt solang als vergessen, bis wir darüber sprechen, nachfragen und dranbleiben. Dann ist die Kraft des Erinnern stärker als das Vergessen.
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Mehr Infos auf www.indenfokus.de. Die Recherchereise fand auf Einladung der Johanniter-Auslandshilfe statt.