In guten wie in schlechten Zeiten

„Mein Alltag ist anders als der anderer Menschen. Ich komme sehr oft an meine Grenzen. Mein Leben ist voller Chaos und ich versuche diesem Chaos mit Strukturen, Routinen und Plänen entgegen zu treten. Ich gebe einen großen Teil meines eigenen Lebens auf für die große Liebe. Wie ist es, wenn der Mensch, den man liebt, eine psychische Erkrankung hat?

Genau darüber möchte ich heute erzählen und möchte euch gerne einen Einblick in unser Leben geben. Ich möchte zeitgleich aber auch aufklären und psychische Erkrankungen alltagstauglich machen. Bevor es los geht, möchte ich kurz klarstellen, dass dieser Artikel in Abstimmung und Absprache mit meinem Mann verfasst wurde. Ich möchte und würde ihn niemals diskreditieren.

Mein Mann und ich lernten uns im Sommer 2015 in einer psychiatrischen Klinik kennen. 

Ich hatte mich selbst einweisen lassen, weil ich wusste, dass ich aus der schweren depressiven Episode, die auf meine vorherige, toxische Beziehung folgte, nicht selbst herausfinden würde. 

Selbstverständlich bin ich nie davon ausgegangen in dieser schweren Zeit meines Lebens in dieser Klinik die Liebe meines Lebens zu treffen. Um ehrlich zu sein hatte ich durch meine vorherigen Erfahrungen so gar keine Lust auf Männer, geschweige denn eine neue Liebe.

Im Laufe meines Aufenthaltes habe ich meinen Mann kennen gelernt und so kitschig das klingt: irgendetwas hat uns von Anfang an verbunden hat.

Wir führten viele tiefe Gespräche und hier hörte ich zum ersten Mal von seiner Diagnose: ADHS. Unter diesen Umständen lernten wir uns anders kennen, ohne Tabuthemen – die gibt es bei uns bis heute nicht. Wir verstellten uns nie voreinander, hatten von Anfang an viel Verständnis füreinander, waren einfach nur wir selbst, mit allen guten und schlechten Eigenschaften.

Mein Mann und ich kennen uns nun seit 6 Jahren, davon sind wir fast vier Jahre verheiratet.

Die Krankheit meines Mannes beeinflusst seitdem auch meinen Alltag.

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) zeigt sich häufig durch Aufmerksamkeitsprobleme, Impulsivität und fehlende Selbstregulation sowie starke körperlichen Unruhe. 

Natürlich gibt es wie bei jeder Krankheit verschiedene Ausprägungsformen. Mein Mann hatte eine sehr ausgeprägte Form des ADHS, mittlerweile würde er aber unter einer leichteren Form eingestuft werden. Ich kenne beide Seiten seiner Krankheit.

Mein Alltag hat sich sehr verändert, seit ich entschieden habe einem Mann mit ADHS mein Herz zu schenken. Mein Alltag ist bestimmt von sehr viel Geduld, Verständnis und Toleranz. Noch nie war mein Leben so strukturiert, da für meinen Mann feste Strukturen wichtig sind. 

Dinge, die für mich und viele andere Menschen selbstverständlich sind, fallen meinem Mann schwer. Zum Beispiel einzukaufen, Arzttermine vereinbaren und wahrzunehmen, sich Essen zubereiten, aufräumen,… Zeitgefühl und Selbstregulation fehlten meinem Mann komplett.

Er hatte Probleme Rechnungen zu bezahlen, impulsive verbale Ausbrüche gegenüber Mitmenschen, Wutausbrüche und sich auf sich selbst zu kontrollieren.

Bei meinem Mann wurde sein ADHS bereits als Kind diagnostiziert, allerdings wurde es nie behandelt, da sein Umfeld seine Krankheit nie ernst genommen. Er bekam zuhause keine Hilfe. Erst im Erwachsenenalter konnte er sich selbst darum bemühen Hilfe anzunehmen. Es folgten viele Klinikaufenthalte, Therapien und eine medikamentöse Einstellung mit Ritalin. Leider half dies nur bedingt.

Damals als er noch medikamentös eingestellt war, hatte ich oft das Gefühl, dass mir nie er, sondern eine wesensveränderte Form von ihm gegenübersaß. Ich wollte so gerne den „echten Menschen“ hinter seiner Krankheit kennenlernen. Doch zusammen schafften wir es, dass er mittlerweile seit 4 Jahren komplett medikamentenfrei lebt. Der Weg dorthin war lang.

Wir sind damals sehr früh zusammengezogen und ich merkte schnell, was es heißt mit einem Menschen dieser Erkrankung zusammenzuleben.

Ich musste jede Kleinigkeit hinterher räumen, musste ihn an alles erinnern, selbst an Kleinigkeiten wie frische Wäsche anzuziehen.

Strukturierter Alltag für mehr Sicherheit

Ich entschloss mich mit Plänen für den Alltag zu beginnen, eine feste Struktur einzuführen und alles stundengenau zu planen: vom Aufstehen bis Schlafengehen. Ihm erfüllbare Tagesaufgaben zu stellen und ihm Arbeiten im Haushalt zu überlassen.

Es hat circa zwei Jahre gedauert, bis die Pläne von ihm angenommen wurden.
Dazwischen immer wieder Tage an denen ich ihn am liebsten verlassen hätte… seine Krankheit bestimmte unser ganzes Leben meinen kompletten Alltag. 

Er war nicht in der Lage zu erkennen, wann auch ich mal Unterstützung brauchte und ich kam mir häufig einsam vor, hatte mit depressiven Stimmungsschwankungen zu kämpfen.

Mittlerweile brauchen wir keine Pläne mehr und er hat von sich aus das Verständnis für feste Strukturen erlernt. Viel dazu beigetragen hat auch die Geburt unserer Tochter im Jahr 2017. 

Mit der Geburt der Tochter änderte sich alles

Ich glaube zu diesem Zeitpunkt hat er zum ersten Mal in seinem Leben von sich aus Verantwortung übernommen und sehr hart an sich selbst gearbeitet. Zudem kommt es mir so vor, als würde er sich selbst oft in unserer Tochter wiedererkennen und vieles besser machen wollen, als seine Eltern es bei ihm taten.

Natürlich ist unser Alltag immer noch sehr strukturiert und es herrschen feste Regeln. 

Ich denke nach wie vor an vielen Stellen für ihn mit. Er würde beispielsweise niemals auf die Idee kommen von sich aus Freunden zu schreiben oder seine Wäsche zu waschen. Nach wie vor fällt es ihm schwer sich längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren denn seine innere Unruhe steht ihm oft im Weg. 

Geändert hat sich allerdings, dass er heute ohne einen Wutausbruch meine Hilfe annimmt und mittlerweile sogar Verständnis für mich zeigt. Bei unserer Tochter denkt er wirklich an alles ohne, dass ich ihn erinnern. Er nimmt Dinge von sich aus wahr, was mich sehr stolz macht. Jeden Tag wächst er an seinen Aufgaben und egal wie schwer es auch mal sein mag, Ich würde meinen Mann niemals aufgeben. Ich weiß, dass er all das auch für mich tun würde, wenn er könnte. Ich sehe seine Fortschritte und bin stolz darauf, was er alles erreicht hat.

Es besteht die Chance, dass auch unsere Tochter ADHS hat, verlässlich kann man eine Diagnose aber erst im Grundschulalter stellen. Egal wie die Diagnose ausfällt, wir werden alles dafür tun unserer Tochter eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Wir werden sie unterstützen wo wir nur können.

Diagnose ADHS: die positiven Seiten

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, warum ich dieses Leben in Kauf nehme.

Die Krankheit bringt nicht nur schlechtes mit sich, sondern äußert sich bei meinem Mann auch in seiner ausgeprägten Kreativität, seiner enormen Tierliebe, dem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, seiner Feinfühligkeit und Ehrlichkeit.
Ich könnte so viele Sachen nennen, die ich an meinem Mann liebe: noch nie bin ich so ehrlich und echt von jemandem geliebt worden wie von ihm.

Wir leben ein Chaosleben – und ich liebe es genau so wie es ist.
Ich habe meinen besten Freund geheiratet und als wir uns versprochen haben „in guten, wie in schlechten Zeiten“, meinten wir beide es auch so. Wir werden immer zusammen kämpfen und auch wenn nicht immer alles leicht ist: jede Krise macht unsere Liebe füreinander nur noch stärker.

Mein Mann ist durch seine Krankheit nicht weniger liebenswert, auch wenn man ihm das lange Zeit weismachen wollte. Gebt den Menschen eine Chance, urteilt nicht vorschnell und versucht hinter die Fassade zu blicken. Man sieht den Menschen ihre Erkrankungen nicht an, ebenso wenig wie ihre Erfahrungen aus denen ihre Handlungen möglicherweise resultieren. Zurückweisung aufgrund von Andersartigkeit schmerzt, das wissen mein Mann und ich aus eigener Erfahrung.
Vor allem in diesem Pandemie-Jahr 202 sollten wir psychische Erkrankungen nicht mehr als Tabu-Thema sehen. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind keine „Fehler im System“.
Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft lernt keine Unterschiede mehr zu machen aufgrund von Krankheiten, Herkunft, Sexualität oder Hautfarbe. Wir alle sind einfach nur Menschen, die es wert sind geliebt zu werden.

Ihr findet Amelie auf Instagram unter @elternmalanders.

4 Kommentare zu „In guten wie in schlechten Zeiten“

  1. Vielen Dank fürs Teilen deiner Story, Amelie. Auch mein Mann lebt mit einer psychischen Erkrankung und ich finde es bewundernswert, wie offen darüber sprichst. Das Stigma ist halt doch nach wie vor vorhanden, aber das kann nur aufgebrochen werden, umso mehr man das Thema in den Mittelpunkt rückt.
    Danke dafür… und vor allem für den Satz „Mein Mann ist durch seine Krankheit nicht weniger liebenswert, auch wenn man ihm das lange Zeit weismachen wollte“…

  2. Ein so wichtiges Thema und ein toller Text! Ich habe es bei meiner Arbeit als Ärztin in der Akutpsychiatrie schon so oft erlebt, dass Patienten von Angehörigen gar kein Verständnis entgegen gebracht wird und manchmal scheinen die Gespräche mit Angehörigen wie ein Kampf gegen Windmühlen. Für die Patienten ist es so wichtig, ihre Partner, Familien und Freunde an ihrer Seite zu wissen. Hier bedarf es noch viel Aufklärung! Danke dafür!

Kommentar verfassen

Komm mit ins NEWSiversum!

Werde Teil der News-Crew und unterstütze die Arbeit meiner kleinen, unabhängigen Redaktion.

Wähle hier ein Paket, das zu dir passt und sichere dir für volle 12 Monate Zugriff auf unabhängig recherchierte News-Beiträge, Hintergründe zu vergessenen Krisen, Tabu-Themen oder Artikel, in dene wir persönliche Herzensangelegenheiten der News-Crew und mir behandeln.

Das NEWSiversum by Elisabeth Koblitz

Faktenbasiert und handverlesen: Im NEWSIversum findest du die wichtigsten Nachrichten der Woche, Hintergrund-Reportagen zu aktuellen oder vergessenen Krisen und liebevoll recherchierte Geschichten, die mich persönlich bewegen oder unserer kleinen Redaktion besonders am Herzen liegen.

Jeden Samstag um 6:00 Uhr informiere ich dich in Elli's Saturday Morning Report per E-Mail über das Wichtigste aus der Welt der Nachrichten. Praktisch zusammengefasst zum Lesen beim Frühstückskaffee oder zum entspannten Nachhören im ESMR-Podcast – denn so ein Samstagmorgen beginnt doch sicher auch bei dir manchmal viel turbulenter, als geplant.

Und wenn dir wirklich mal wieder gar keine Zeit übrig bleibt, bleibst du mit meinem neuen WhatsApp-Newsletter trotzdem immer bestens informiert.

Nach oben scrollen