Monat: August 2021

“Woher sollte ich als Kind wissen, dass es nicht normal ist, wenn die Mama einen schlägt?”

Ein Text von Sarah Schulze

Julia ist 30 Jahre alt und hat weder Kontakt zu ihrem Vater noch zu ihrer Mutter. Ihre Mutter ist psychisch krank und hat sie als Kind häufig geschlagen. Eine Geschichte, mehrere gesellschaftliche Tabuthemen: Kontaktabbruch, psychische Erkrankung, Gewalt – und vor allem ist es Julias persönliches Tabuthema. Wenn Freunde und Bekannte in Gesprächen locker und fröhlich über ihre Eltern sprechen, sitzt Julia nur still daneben. Zu komplex, zu mächtig ist ihre Geschichte. Was machen solche zerrütteten Familienverhältnisse mit einem Menschen?

Julia (Name von der Redaktion geändert) war sechs Jahre alt als sie ihren Vater kennenlernte. Wie aus dem Nichts stand er auf einmal vor ihr, vor dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnte. “Das ist Dein Vater.” Die Worte ihrer Mutter hallen auch heute noch in ihren Ohren nach. Die Stimmung zwischen den Eltern war aggressiv, sagt Julia. Daran kann sie sich noch gut erinnern. Heute hat sie zu beiden keinen Kontakt mehr. 

“Hör auf”, sagte er

Julia wächst bei ihrer Mutter auf. Die Eltern waren nur kurz zusammen, direkt nach ihrer Geburt trennten sie sich. Kurz nachdem sie ihren Vater mit sechs Jahren kennenlernte, kommt er mit einer anderen Frau zusammen. Was danach passiert, versteht Julia bis heute nicht: “Mein Vater hat ein Geheimnis aus mir gemacht. Vor seiner neuen Frau hat er geleugnet, dass es mich gibt.” Sie schrieb ihm viele, viele Briefe, erzählt sie. Seine Antwort war immer dieselbe: “Hör auf.” Julia wirkt ruhig und gefasst, als sie über die Reaktionen ihres Vaters berichtet – bewundernswert angesichts dieser Worte, die so verletzend gewesen sein müssen. 

Heute lebt er mit seiner Frau und seinen anderen Kindern in Italien, dort stammt er gebürtig her. Ich frage sie, ob sie mit dem Gedanken spiele, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen. “Wir können keine Beziehung mehr aufbauen. Es ist einfach zu viel passiert. Über was sollen wir denn sprechen?” Lange Jahre war sie vor allem eins: Wütend. Jetzt aber, sagt sie, sei er ihr komplett gleichgültig. Im Gespräch merkt man, wie viel ihr der Weg dorthin abverlangt hat. 

“Ich hatte immer das Gefühl, dass ich zurecht geschlagen werde”

Julia wurde von ihrer Mutter alleine großgezogen. “Im Nachhinein gab es schon immer Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, dass sie schon lange psychisch krank war,” berichtet sie. Später die Diagnose: Ihre Mutter ist am Borderline-Syndrom erkrankt, war dazu alkoholabhängig. Oft warf die Mutter ihr vor, ihrem Vater zu ähnlich zu sehen – das reichte für sie oft als Grund, um gewalttätig gegenüber Julia zu werden. An anderen Tagen wurde sie geschlagen, weil sie nicht richtig aufgeräumt hatte. Mit 10 oder 11, so genau weiß es Julia nicht mehr, schlug ihre Mutter sie so heftig, dass sie ohnmächtig wurde. Und immer begleitete die Tochter ein Gefühl: “Ich dachte, dass meine Mutter Recht hat, dass ich zu Recht geschlagen werde. Ich habe mich schuldig gefühlt. Woher sollte ich als Kind wissen, dass es nicht normal ist, wenn die Mama einen schlägt?”

“Ich war sozial isoliert”

“Aber ich hatte doch sonst niemanden, kein soziales Gefüge, weil es für meine Mutter immer nur sie und mich gab. Wenn ich mich mit Freunden treffen wollte, gab mir meine Mutter immer dringende Aufgaben, sie ich sofort erledigen musste. Ich war sozial isoliert.” Auch die Beziehung ihrer Mutter zu Julias Oma ist schwierig, Julia und ihre Oma treffen sich heimlich, als Julia älter ist.

Diese erschütternden Schilderungen aus der Kindheit einer jungen Frau – sie gehen durch Mark und Bein. Aber, so erzählt Julia, es gab auch viele schöne Momente. “Wir sind oft in den Urlaub gefahren, in manchen Momenten hat mir meine Mutter fast alle Wünsche erfüllt.” Auch habe sie Heimweh gehabt, wenn sie in seltenen Momenten nicht zu Hause war. “Sie ist doch meine Mama”, sagt Julia fast entschuldigend. “Und wäre es woanders wirklich besser gewesen?”

“Wenn du jetzt gehst, kommst du nicht wieder zurück”

Nach dem Abitur hat Julia ein Ziel: frei sein, ein eigenes Leben aufbauen – unabhängig von ihrer Mutter. Sie beginnt ein Studium in einer anderen Stadt, nicht weit entfernt von Zuhause, möchte dorthin ziehen. Als sie ihrer Mutter von den Plänen erzählt, sagt diese einen Satz, der alles verändert: “Wenn du jetzt gehst, kommst du nicht wieder zurück.” “Sie hat mich damit emotional erpresst. Sie dachte, ich bleibe bei ihr.” 

Julia geht trotzdem. Die Mutter bricht sofort den Kontakt ab, blockiert ihre Nummer, ist von jetzt auf gleich nicht mehr erreichbar. “Es hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich konnte nicht mehr, musste mein Studium abbrechen. Meine Welt ist zusammengebrochen.” 

Sie zieht zu ihrer Oma, beginnt eine Therapie, will wieder studieren – und zieht in eine andere Stadt. Dort merkt sie vor allem eins: “Ich habe nie gelernt, soziale Kontakte aufzubauen. Meine Mutter hat mich von all dem fern gehalten.” Sie kämpft sich durch, baut sich ein Leben auf. Heute wohnt sie wieder in ihrer Heimatstadt, kümmert sich um ihre Oma. Ob ihre Mutter mitbekommen hat, dass Julia nur ein paar Straßen weiter wohnt? “Das weiß ich nicht.”

“Habe ich überreagiert?”

Auch heute fühle sie sich noch oft schuldig, sagt Julia. “Besonders in Momenten, in denen mich meine Mutter früher geschlagen hat, kommen die Gefühle wieder hoch. Bei banalen Sachen, zum Beispiel beim Staubsaugen, weil ich es ihr bei solchen Dingen nie Recht machen konnte.” Sie frage sich auch heute noch, ob sie damals, als sie nach dem Abitur von Zuhause weggegangen ist, nicht überreagiert hat. “Vielleicht habe ich etwas falsch interpretiert?”

“Ihr könnt es schaffen”

Ein Tabuthema, so Julia, sei es nicht nur wegen der Sache an sich. “Es ist mein persönliches Tabuthema.” Wenn andere fröhliche Geschichten über ihre Eltern und Geschwister erzählen, säße sie nur still daneben. 

Man sieht Julia an: Ihre Lebensgeschichte hat sie extrem geprägt. Was man aber auch sieht: Die 30-Jährige wirkt beeindruckend reflektiert und in sich ruhend. Heute arbeitet sie als Sozialpädagogin, betreut oft Kinder aus schwierigen Verhältnissen. “Ich will ein Vorbild für diese Kinder sein, ich will zeigen: Ihr könnt es schaffen.” 

News on Instagram: FRIDAY FEELINGS

Ich bin seit 6 Jahren Mama. In 4 Jahren habe ich drei gesunde und wundervolle Kinder geboren. Und wenn ich gefragt werde, wie das so ist – ringe ich nach den richtigen Worten. Dieses Mama-Gefühl, dieser Mix aus unendlicher Liebe und gleichzeitig unendlicher Müdigkeit – der ist unbeschreiblich.
Ich blicke auf die Fotos von vor zwei oder vier Jahren und sehe eine Frau – mal hochschwanger oder mit Neugeborenen im Arm – und an ihrer Seite erst ein, dann zwei Mädchen und ich ertappe mich wie ich denke: Puh. Das muss doch auch ganz schön anstrengend sein.

Und das war es auch. Denn neben diesen kleinen, zarten, schönen Momenten funktionierte ich rund um die Uhr. Ich wurde gebraucht. 24/7. All die kleinen und größeren Meilensteine, all die durchwachten Nächte, weil ein Zahn durchbrechen will, weil das Baby die Nähe braucht, weil das Kind krank ist.
Wenn das Kleinkind gerade erst laufen kann und Du es nicht eine Sekunde aus den Augen lassen darfst. Oder das fast Zweijährige, das einfach keinen Bock hat im Auto zu sitzen und deshalb schreit, nur schreeeeeeit und dabei die Hirsekringel in der Hand zerbröselt und auf den Boden schmeißt, vor lauter Wut.

In diesen Momenten, in diesen Phasen funktionierst Du als Mama einfach nur. Denn für alles andere reicht Dir Deine Energie nicht mehr.

Meine Kinder sind immer noch klein. Sie brauchen mich immer noch. Doch in den letzten Tagen spüre ich, dass wir gerade am Ende dieser ersten krassen Phase sind. Wenn wir im Cafe sitzen, sind es die anderen, die draußen auf und ab gehen, um das schreiende Kleine zu beruhigen. Andere sagen: “Ich will einfach nur mal drei Stunden am Stück schlafen”. Und ich bin die, die ruhig antwortet: “Das wird ganz bald besser.”

Ich sehe meine kleine Große, die fast schon 6 ½ ist. Sie ist zu groß, um sie auf dem Arm die Straße entlang zu tragen, sie hat Humor und erzählt tolle Geschichten. Oder sie sagt: “Papa, Du hast das heute richtig gut gemacht” und “Mama, danke, dass Du an meine Erzieher gedacht hast und ihnen Sonnenblumen gekauft hast” und sagt “Kleiner Bruder, ich zeig Dir, wie es geht”.

Beim Kita-Abschied gestern hatte sie, genau wie ihre Eltern, Tränen in den Augen, als jedes Kind zu ihr kam und ihr einen Wunsch für den nächsten großen Lebensabschnitt mitgab: “Ich wünsche Dir einen Schutzengel”. “Ich wünsche Dir eine Blume”. “Ich wünsche Dir Kraft”. “Ich wünsche Dir Freunde”.

“Wie fühlst Du Dich?” frage ich sie auf dem Nachhauseweg. “Ich bin glücklich und auch ein bisschen traurig”, antwortet das hoppsende Mädchen an meiner Hand.

Und das erste Mal in den vergangenen 6 Jahren habe ich Luft und Energie einen bittersüßen Meilenstein bewusst wahrzunehmen und zuzulassen.
Ich drücke ihre Hand fest und schlucke den Kloß in meinem Hals runter.
“Ich auch”, sage ich.

News on Instagram: Das Klimaschutz-Sofortprogramm

Die 10 Punkte des Programms

  • Erneuerbare Energien schneller ausbauen
  • Den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen
  • Wirtschaft und Industrie auf Klimaneutralität ausrichten
  • Klima-Offensive bei Gebäuden und im Bausektor starten
  • Mobilitätswende beschleunigen
  • Grünen Wasserstoff stärken
  • Klimaschutz, Natur und Landwirtschaft zusammenbringen
  • Klimaschutz sozial gerecht gestalten
  • Bundeshaushalt zum Klimahaushalt machen
  • EU zur Klimavorreiterin machen, Klimaaußenpolitk vorantreiben

Welche Ziele werden konkret verfolgt?

  • Schaffen eines „klimagerechten Wohlstands“
  • Erreichen des 1,5 Grad-Pfades des Pariser Klimavertrags
  • Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro pro Tonne
  • Tempolimit 130 km/h auf allen Autobahnen
  • Solarpflicht auf allen Dächern
  • Förderprogramme, z.B. für Ladesäulen für Elektroautos
  • Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro

Wie sollen diese Ziele erreicht werden?

  • Durch eine „Klima-Task-Force“ in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung, um Abstimmungsprozesse zu beschleunigen
  • Durch ein Klimaschutzministerium, das ein Veto-Recht gegenüber anderen Ressorts hat, bspw. wenn Gesetzesvorlagen gegen den Pariser Klimavertrag verstoßen

Was steht nicht im Programm?

  • Zukunft der Verbrennungsmotoren und Kurzstreckenflüge
  • Auswirkungen des CO2-Preises auf Autofahren und Heizen

Was ist davon zu halten?

Auf den ersten Blick scheint der Zusatz „Sofort“ des Klimaschutz-Sofortprogramms gewagt. Denn im Zweifel werden die vielen geplanten Gesetzesnovellen nicht urplötzlich umgesetzt werden. Obwohl insbesondere eine der Reformen vielen Bürger*innen gut gefallen könnte. So wollen die Grünen eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro erzielen, damit „gerade Menschen mit niedrigen Einkommen nicht durch steigende Preise bei einzelnen Gütern im Klimaschutz überfordert werden“. Ist das dann aber nicht eher eine Milchmädchenrechnung, weil alles andere, wie u.a. der CO2-Preis, auf einen Schlag angehoben wird?

Gerade der 8. Punkt des Programms lässt zumindest darauf schließen, dass die Maßnahmen und Ziele der Grünen eher die vermögenden Bürger*innen ansprechen. Zwar sollen Klimabonus-Fonds für diejenigen geschaffen werden, „für die der Weg in die Klimaneutralität finanziell nicht einfach zu stemmen ist.” Jedoch bleibt abzuwarten, wie diese – vor allem nach den Corona-Überbrückungshilfen – umgesetzt werden. Apropos Zahlungen – das gesamte Programm soll bis 2030 mittels Krediten und neuer Schulden in Höhe von ca. 500 Milliarden Euro finanziert werden.

Kritiker werfen den Grünen vor, dass in dem Program zu wenig Neues steht, auch blieben sie eine Erklärung schuldig, wie das konkret und vernünftig gegenfinanziert werden soll.

News on Instagram: Die Lage in Belarus

Maria Kolesnikowa, Witali Schischow und Kristina Timanowskaja – die drei oppositionellen Belaruss:innen dominieren in den letzten Tagen die internationale Presse. Gegen Kolesnikowa startete gestern ein Prozess in Minsk – man kann ihn als politischen Schauprozess einstufen. Die Oppositionelle war vergangenes Jahr in Minsk festgenommen worden, als sie sich ihrer Abschiebung in die Ukraine widersetzte. Schischow wurde diese Woche erhängt in einem Park von Kiew unweit seines Wohnortes gefunden. Sein Tod wird untersucht, die Polizei nahm Mordermittlungen auf – ein von Lukaschenkos Geheimdienstschergen als Selbstmord verschleierter Auftragsmord wird nicht ausgeschlossen. Olympionikin Timanowskaja sollte nach eigenen Angaben aus Tokio entführt werden, nachdem sie belarussische Sportfunktionäre kritisiert hatte. In Polen bekam sie jetzt Asyl.

Drei Fälle – ein Hintergrund: Belarus geht brutal gegen Regierungskritiker vor, Repression ist Alltag – vor allem nach der Wahl im Sommer 2020.
Danach kam es zu historischen Massenprotesten im Land, nachdem sich Lukaschenko trotz Vorwürfen der Wahlfälschung zum Sieger erklärt hatte. Protestiert wird noch immer; und immer noch werden Demonstrationen gegen den Diktator brutal niedergeschlagen. Viele Belarussen fliehen in benachbarte Länder, um dem Regime zu entkommen.

Seit der Präsidentschaftswahl hat die EU verschiedenste Sanktionen gegen Belarus erlassen, darunter Einreisevebote, eingefrorene Konten und Auslandsvermögen. Nach der Verhaftung eines oppositionellen Bloggers Roman Protassewitsch durch eine erzwungene Flugzeuglandung. Im Mai kamen weitere Sanktionen hinzu – und die gehen für EU-Maßstäbe äußerst weit, weil sie u.a. ganze Wirtschaftszweige sanktionieren, so etwa die Öl- und Tabakbranche. Die EU verbietet europäischen Firmen beispielsweise, raffinierte Öl-Produkte zu importieren und erschwert belarussischen Banken den Zugang zum EU-Kapitalmarkt.

Wie hart treffen die Sanktionen die Regierung? Der Druck auf Lukaschenko wächst in jedem Fall; der Export raffinierter Öl-Produkte gehört zu den Haupteinnahmequellen des Landes. Und auch auf deutsche Unternehmen: Siemens Energy hält bislang zum Beispiel an seinen Lieferungen von Gasturbinen in die Diktatur fest, steht deshalb in der Kritik. Fest steht auch: Die EU-Sanktionen steigern vor allem die Abhängigkeit des Lukaschenko-Regimes von Russland. Der Kreml unterstützt Belarus mit hohen Darlehen und seit den Sanktionen mit Notkrediten.


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