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Monat: Mai 2021

Aus Liebe habe ich meinen Sohn zur Adoption freigegeben

Schwanger? Oh man, ich hatte es mir immer gewünscht, aber jetzt, jetzt doch noch nicht und doch nicht von einem One-Night-Stand, dessen Nachname ich nicht einmal kannte! Da war ich nun, 19 Jahre alt, Abiturientin und schwanger. Und darauffolgend ständig diese eine Frage: Willst du es behalten?
Selbst nachdem ich immer wieder gesagt habe, dass eine Abtreibung für mich nicht in Frage kam, nahm es kein Ende. Wenn ich heute, 9 Jahre später, an meine Schwangerschaft zurückdenke, erinnere ich mich nicht an die ersten Tritte, an das Streicheln meines Bauchs, an die Musik, die ich meinem Kind vorgespielt habe. Stattdessen erinnere ich mich an die ständigen Nachfragen, Blicke und Diskussionen.
Ich habe eine wunderbare und unterstützende Familie, aber dass meine Eltern ihre Selbständigkeit aufgeben, kam nicht in Frage. Ich war überfordert mit der neuen Situation, doch statt Hilfe anzubieten, wurden mir immer nur Auswege gezeigt.

„Ich wollte mit meinem kleinen unverhofften Wunder einer anderen Familie ein Geschenk machen“

Anfang des dritten Trimesters entschied ich mich das Kind nicht zu behalten. Stattdessen wollte ich mit meinem kleinen unverhofften Wunder einer anderen Familie ein Geschenk machen. Einer Familie, die keine eigene Chance auf Kinder hatte. Ich suchte also das Jugendamt noch während der Schwangerschaft auf, erklärte meine Situation und teilte mit, dass ich das Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben möchte. Zwar konnten die ersten Dinge bereits ins Rollen gebracht werden, allerdings war eine endgültige Freigabe des Kindes zur Adoption erst 8 Wochen nach der Geburt möglich.

Und dann kam alles Schlag auf Schlag: Ich saß im Auto, um meine Eltern von einer Geburtstagsfeier abzuholen als ich bemerkte, dass das Ziehen im Bauch immer stärker und in kürzeren Abständen kam. Zuhause angekommen, versuchte ich es wegzuduschen, wegzumassieren, wegzuschlafen, aber es half alles nichts. Zwei Stunden später brachte mich meine Mutter ins Krankenhaus, knapp acht Wochen vor ET. Der kleine Mann ließ sich jedoch nicht aufhalten und kam zur Welt. Und dabei war ich doch noch gar nicht so weit. Ich hatte doch eigentlich noch Bedenkzeit, ich hatte noch gar keinen Namen und was mach ich denn jetzt eigentlich mit diesem Kind, über dessen Adoption ich noch vor ein paar Tagen mit dem Jugendamt gesprochen hatte?

„Ich liebte dieses kleine Menschlein von der ersten Sekunde an. Kopf gegen Herz.“

Weil der Kleine ein Frühchen war, wurde er direkt auf eine Frühchenstation gebracht, weg von mir und auch die nächsten Tage habe ich ihn kaum gesehen. Und trotzdem liebte ich dieses kleine Menschlein von der ersten Sekunde an. Und da war es nun das bekannte Dilemma: Kopf gegen Herz. Wie sollte ich für das kleine Wesen sorgen können? Ich war nicht vorbereitet, ging noch zur Schule und hatte gerade erst eine Psychotherapie wegen PTBS nach erfahrener sexualisierter Gewalt abgeschlossen. Was passiert, wenn ich in ein depressives Loch falle, was passiert, wenn ich mit der Angst, die mich verfolgt, nicht umgehen kann? Und so fiel die Entscheidung für die Adoption. Ich sprach mit dem Jugendamt und die zuständige Sachbearbeiterin klärte mich über das weitere Vorgehen auf. Ich entschied mich für eine offene Adoption, erzählte ihr, dass es mir wichtig sei, dass das Baby zu einer Familie komme, dass noch kein Kind habe und fuhr täglich zur Frühchenstation, um den Schwestern die abgepumpte Milch zu überreichen. Ich wollte nur das Beste für mein Kind, in jeder erdenklichen Weise. Und dann war es so weit, die Adoptionspapiere unterschrieben. Rechtlich gesehen war das der Moment, in dem mein Kind die volle Stellung eines ehelichen Kindes zu den Adoptiveltern auf allen Rechtsgebieten erlangte.page1image18516800

Und während es die eine Beziehung erlangte, erlöschte die verwandtschaftliche Beziehung zu mir. Auf dem Papier ein einfacher Prozess. In der realen Welt bleibt das biologische Band, die Erinnerung.

Adoption ist ein stigmatisierter Begriff. Der Gedanke ist meist, dass der Mutter das Kind von den Behörden weggenommen wurde, weil diese nicht in der Lage war ihren elterlichen Pflichten nachzukommen. Bei mir war das nicht so. Ich hatte selbst den Kontakt zum Jugendamt gesucht, weil ich das Beste für mein Kind wollte. Ich habe selbst diese Entscheidung getroffen.

Auf einmal stand ich da und war Mutter ohne Mutter zu sein.
Und dann begann der Spießrutenlauf. Jeder in meinem Umfeld konnte sehen, dass ich schwanger war, aber nicht jeder konnte sehen, dass das Kind nicht mehr bei mir war. Ständige Fragen nach dem Kind, die natürlich lieb gemeint waren, versetzten mir einen Stich, auch wenn ich nach außen stark blieb und die Lage erklärte. Darauf folgte unangenehmes Schweigen, bedauernde Blicke.
Adoption ist ein stigmatisierter Begriff. Der initiale Gedanke ist meist, dass der Mutter das Kind von den Behörden weggenommen wurde, weil diese nicht in der Lage war ihren elterlichen Pflichten nachzukommen. Bei mir war das nicht so. Ich hatte selbst den Kontakt zum Jugendamt gesucht, weil ich das Beste für mein Kind wollte. Ich habe selbst diese Entscheidung getroffen. Doch wenn ich mit Anderen darüber sprach, dass mein Kind nun von einer anderen Familie adoptiert wurde, wurde ich mit verachtenden Blicken beäugt, die mir klar machen sollten, was für eine Rabenmutter ich doch war, weil ich mein Kind „einfach“ weggegeben habe. Welch eine Ironie, wo ich diese Entscheidung doch nur getroffen hatte, um eben keine Rabenmutter zu sein.

Mein Sohn fragt mich: „Wenn ein Baby auf die Welt kommt, dann ist es ja bei seiner Mama und seinem Papa. Warum bin ich denn dann nicht bei dir?“
Wenn ich nach diesen Besuchen im Auto sitze, muss ich oft weinen.
Weil ich vor lauter Liebe für dieses Kind platze und meine damalige Entscheidung bereue.

Nach der Geburt, der Adoption und dem Abitur zog ich in eine neue Stadt. Neue Wohnung, neue Menschen, das Studium – ein kompletter Neuanfang. Hier weiß keiner, dass ich mal Mutter war und noch immer eine „Bauchmama“ bin. Keiner weiß von meiner inneren Zerrissenheit. Ich habe mich damals für eine offene Adoption entschieden, weil es mir wichtig war, dass mein Kind immer die Möglichkeit hat, seine Wurzeln zu erforschen und mich kennenzulernen. Ich wollte das Beste für mein Kind, ich wollte, dass es sich gut entwickelt, in einem sicheren Umfeld und ich wollte, dass es sich geliebt fühlt, von seinen Eltern, wie von seiner Bauchmama. Und deshalb sehen wir uns seit acht Jahren mehr oder weniger regelmäßig.
Meist fahre ich zu ihm und dann ist es, wie bei ganz normalen Familientreffen: Wir verbringen Zeit zu zweit, aber auch Zeit mit den Eltern und dem Geschwisterkind. Und jedes Mal ist es wunderschön und jedes Mal ist es zerreißend. Wir haben unendlich viele tolle Momente, in denen wir spielen, kuscheln, gemeinsam musizieren und uns unterhalten. Und mit kindlicher Leichtigkeit fragt mich mein Sohn dann: „Wenn ein Baby auf die Welt kommt, dann ist es ja bei seiner Mama und seinem Papa. Warum bin ich denn dann nicht bei dir?“ Wenn ich nach diesen Besuchen im Auto sitze, muss ich oft weinen. Weil ich vor lauter Liebe für dieses Kind platze und meine damalige Entscheidung bereue.

Die Entscheidung einer offene Adoption ist richtig: so kann ich als leibliche Mutter die vielen Fragen meines Sohnes beantworten

Und auch wenn ich an meiner damaligen Entscheidung für eine Adoption heute nichts mehr ändern kann, dann weiß ich doch, dass noch mehr solcher Fragen kommen werden, je älter er wird, aber diese Fragen zeigen mir jedes Mal, dass die Entscheidung für eine offene Adoption die richtige war. Ich will nicht, dass mein Sohn mit diesen Fragen allein ist oder die Antworten von anderen bekommt. Egal wie schwer es mir fällt, ihn zu sehen, ihn zu lieben und ihn dann zurückzulassen, ist das Wichtigste für mich für ihn und seine Fragen da zu sein, damit es ihm gut geht. Und bei all diesen gemischten Gefühlen überwiegt im Endeffekt doch immer das Glücklich sein: Das Glücklich sein darüber, dass es meinem Sohn gut geht, dass wir ein enges Verhältnis haben, dass ich eine wunderbare Familie für ihn gefunden habe und wir gemeinsam eine kunterbunte Familie ergeben.

Deshalb ist das, was ich mir von der Gesellschaft wünsche kein Mitleid oder mehr Unterstützung, sondern in erster Linie Offenheit und Akzeptanz für unterschiedliche Familienmodelle, bei denen das der offenen Adoption nur eins von vielen ist.

Eine Pandemie, eine Familie, vier Geschichten

Ein Text von Lea Schings

Die Beziehung zwischen meinen Geschwistern und mir ist eng. Ich habe zwei Brüder und eine Schwester, wir alle sind an verschiedenen Lebenspunkten. Ich bin 23, vor fast 5 Jahren ausgezogen und studiere im Master in Hamburg, mein Bruder, 20, macht in unserer Heimatstadt eine Ausbildung, meine Schwester, 17, macht in diesem Jahr ihr Abitur und der Kleinste, unser Nachzügler kommt dieses Jahr auf die weiterführende Schule. Wir sind an ganz verschiedenen Punkten in unserem Leben und doch wurde unser Alltag im letzten Jahr von ein und derselben Sache stark beeinflusst, der Coronapandemie. Diese Pandemie hat uns alle Lebenserfahrungen gekostet und uns verändert. Ich habe mit meinen Geschwistern über das letzte Jahr gesprochen.

Als ich meine Schwester anrufe, ist sie gerade von ihrem Nebenjob zurückgekommen. Sie arbeitet in einem Corona-Testzentrum, seit Anfang Mai, gleich nachdem sie ihre schriftlichen Abiturprüfungen hinter sich gebracht hatte, hat sie dort angefangen. Noch ist sie 17, sie darf nur zwei Stunden am Tag arbeiten, doch sie verdient gut. Von dem verdienten Geld möchte sie diesen Sommer in den Urlaub fahren. Mit ihren Mädels, vielleicht mit ihrem Freund. Die beiden sind im Sommer ein Jahr zusammen. Auf die Frage, wie für sie das letzte Jahr war, sagt sie „vor allem anders“. Sie denkt gern zurück an den letzten Sommer und Herbst, als alles wieder lockerer wurde und sie coole Erfahrungen mit ihren Freunden machen durfte. Sie musste sich aber auch viel einschränken. Ich weiß, dass ihr letztes Schuljahr ganz anders war als meins damals. Doch sie scheint sich mittlerweile damit arrangiert zu haben, ist froh, dass die Schule jetzt vorbei ist und sie nicht mehr 8 Stunden am Tag eine Maske auf hat, dass sie ohne Zwischenfälle durch die Vorabi- und Abiprüfungen gekommen ist. Das war allerdings nicht immer so einfach.
Von meiner Mutter weiß ich, dass meine Schwester in den ersten Monaten der Pandemie auch viele schlechte Phasen hatte.

Das mit der Schule, das war vor allem im ersten Lockdown nicht einfach. Es hat gedauert, bis alle Lehrer sich mit den Wundern der Technik vertraut gemacht hatten, bis man wieder ansatzweise so etwas wie Unterricht hatte. Bis kurz vor den Sommerferien waren sie im Homeschooling, ihre Stufe die erste, die wieder zur Schule gehen durfte. Die Abiturientia hat Priorität. Die Sommerferien nutzt meine Schwester so gut es geht, fährt mit einer ihrer Freundesgruppen in einen benachbarten Ort zum Campen, verbringt dort Zeit an einem See in der Sonne.
Im Winter kam der nächste Lockdown und bis April hat sie sich nur mit ihrem Freund und einer Freundin getroffen. Ihre Freundinnen haben die ein oder andere Coronaparty gefeiert, meine Schwester war eingeladen, doch sie ist zu keiner einzigen hingegangen. Im April dann hat sie sich auf Abstand mit ein paar Freunden an einem Lagerfeuer getroffen. Als ich sie frage, was sie am meisten vermisst, antwortet sie genau das. Zeit mit Freunden verbringen, in größeren Gruppen. Sich nicht entscheiden zu müssen, sondern mehrere Menschen sehen, Freundesgruppen mischen, unbeschwert beisammen sein. Gemeinsame Zeit genießen mit Leuten, die man lange nicht gesehen hat, mit Leuten, die nach dem Abitur die Stadt verlassen werden.

Viele Erfahrungen bleiben meiner Schwester verwehrt. Ihre letzte Schulwoche fühlte sich an wie jede andere auch, sie wird keinen Abiball haben, die 18. Geburtstage ihrer Freunde nicht so feiern, wie ich es kenne.

Ihr Abitur selbst ist bis jetzt Gott sei Dank glimpflich über die Bühne gegangen. In den Wochen vor den Osterferien wurde die Abiturientia zweimal wöchentlich getestet, außerdem vor jeder Vorabiklausur. Kurz vor den Abiturprüfungen gab es dann einen Coronafall in ihrer Stufe. 25 Personen mussten in Quarantäne und hätten eine Prüfung nicht mitschreiben können, doch die Schule hat gut reagiert, hat einen Alternativtermin zur Verfügung gestellt und negativ getesteten Personen erlaubt, die Quarantäne für die Prüfung zu verlassen. Generell galt: Wer sich nicht testen lassen möchte, schreibt in einem separaten Raum und nicht mit den anderen Schüler:innen.

Jetzt folgt nur noch die mündliche Prüfung Anfang Juni, dann hat meine Schwester frei, bis sie im Oktober ihre Ausbildung zur Krankenschwester beginnt. Sie hofft auf einen lockeren Sommer, ähnlich dem letzten, sodass sie die letzte gemeinsame Zeit mit ihren Freundesgruppen in voller Besetzung genießen kann.

„Glaubst du, das letzte Jahr hat dich nachhaltig beeinflusst?“ „Ja“, sagt sie, „Ich glaube, ich bin selbstständiger geworden. Das kann natürlich auch mit dem Alter zusammenhängen, aber der veränderte Schulalltag hat schon zu mehr Selbstständigkeit geführt“. Beim Homeschooling muss man an vielen Stellen alleine klarkommen, viel mehr als vorher in der Schule.

Viele Erfahrungen bleiben meiner Schwester verwehrt. Ihre letzte Schulwoche fühlte sich an wie jede andere auch, sie wird keinen Abiball haben, die 18. Geburtstage ihrer Freunde nicht so feiern, wie ich es kenne. Trotzdem ist sie positiv gestimmt. Offensichtlich hat sie die Pandemie auch gelehrt, das Beste aus Dingen zu machen.

Mein Bruder, 20, Auszubildender

Meinen Bruder erwische ich an einem Homeschooling-Tag. Er macht seit August 2020 eine kaufmännische Ausbildung und ist seit Januar im Homeoffice. Dort bleibt er voraussichtlich auch bis nächsten August, so lange ist er noch in seiner aktuellen Abteilung. Seine Firma hat von Corona profitiert, man hat 43% mehr Umsatz gemacht, neue Abteilungen sind hinzugekommen. Die anderen Azubis hat mein Bruder nur am Anfang einmal gesehen, seitdem nicht mehr und auch ansonsten hat er gerade mit seinen Kollegen wenig zu tun. Er sieht sie in Online-Gruppenmeetings, wenn er eine Frage hat oder eine neue Aufgabe bekommt, ansonsten macht er sein eigenes Ding. Er sitzt monatelang Tag ein, Tag aus vor dem Bildschirm, zwischenzeitlich ist auch der schulische Teil der Ausbildung ins Homeschooling verlagert. Gesellschaft leistet ihm seine Freundin, mit der er seit August zusammenwohnt und jedes Wochenende gibt es ein großes Familiendinner bei meinen Eltern, ansonsten sieht er niemanden, trifft monatelang keinen einzigen Freund. Die fehlende Abwechslung macht ihm zu schaffen.

Er erzählt, dass, wenn er das Leben, wie er es die letzten Monate führen musste, die nächsten 10 Jahre weiterführen müsste, würde er dieses Leben nicht wollen.

Als ich ihn frage, was er am meisten vermisst, rechne ich damit, dass er das Feiern, seine Freunde oder Partys antwortet. Stattdessen sagt er: „Die Perspektive.“ Seine Antwort überrascht mich, doch als er mehr erzählt, davon, wie schwer die letzten Monate für ihn waren, dass ihn die Nachrichten nur noch deprimiert haben, dass nichts mehr einen Sinn gemacht hat, wie wenig Hoffnung er hatte. Mir wird klar, dass ich nicht so viel mitbekommen habe, wie ich dachte. Ich habe vor allem wahrgenommen, dass er sich immer so gut wie möglich beschäftigt gehalten hat, er hat sich via Ebay Kleinanzeigen Fitnessgeräte zusammengekauft und sein Training durchgezogen, Ausflüge mit seiner Freundin unternommen.
Auch meine Mutter, mit der ich kurz darüber gesprochen habe, hat das so empfunden. Er habe sich von uns 4 Kindern am besten in die Regeln eingefügt, ist seinen Weg vermeintlich ohne große Krisen gegangen. In ihm drin jedoch scheint es ganz anders ausgesehen zu haben. Er erzählt, dass, wenn er das Leben, wie er es die letzten Monate führen musste, mit Homeoffice und Homeschooling und keinen Kontakten zur Außenwelt, die nächsten 10 Jahre weiterführen müsste, würde er dieses Leben nicht wollen. Eine heftige Aussage.

Mittlerweile geht es ihm besser. Er darf wieder im Wechselunterricht zur Schule, das hilft ihm und „Präsenzunterricht liegt mir eh besser“. Hauptsache, er kommt mal raus und kann Leute sehen, dann stört ihn auch das Homeoffice nicht allzu sehr. Die vorangehende Impfkampagne gibt ihm Hoffnung und er hat mit seiner Freundin vor ein paar Tagen den Sommerurlaub in Spanien gebucht. Das letzte Jahr hat ihn nachdenklicher gemacht, vielleicht etwas negativer in seiner Einstellung, vielleicht ändert sich das aber auch wieder, meint er. „Ich denke, ich werde es mehr schätzen, wenn man wieder die Sachen machen kann, die vorher selbstverständlich waren“, sagt er und ich wünsche mir sehr für ihn, dass dieser Zeitpunkt, an dem man wieder ein normales Leben führen kann, möglichst bald kommt.

Mein kleiner Bruder, 10, Schüler

Als ich mit dem Kleinsten telefoniere, erwarte ich eigentlich vor allem die Antworten „Ja“, „Nein“ und „Vielleicht“. Er ist nicht so gesprächig, unser Nesthäkchen, besonders nicht am Telefon. Doch er ist erstaunlich redefreudig, erzählt direkt zu Anfang, dass er sehr froh ist, im letzten Jahr einen neuen Freund gefunden zu haben, seinen jetzt besten Freund, der im letzten Sommer in seine Klasse gekommen ist. Er hat, ähnlich wie wir alle in den letzten Monaten, sehr wenig Kontakte zu Freunden gehabt, mit seinem besten Freund hat er sich letztens draußen zum Fußballspielen getroffen, das fand er toll. Dass die Pandemie so lange dauert, findet er blöd, doch er kommt erstaunlich gut mit den fehlenden Sozialkontakten zurecht. Andererseits hat er eine große Familie, vielleicht hilft das ja zu einem gewissen Grad.

Es hilft vor allem mit Blick auf die Schule, denn auch der Kleinste wird nach den Sommerferien auf das Gymnasium gehen, auf dem wir anderen alle waren. Er hat sehr gehofft auf diese Schule zu kommen, erzählt er, weil er die Schule schon kennt, weil er sich so etwas sicherer fühlt bei einem Umbruch, der in der aktuellen Zeit noch gruseliger scheint als sowieso schon. Sein letztes Schuljahr auf der Grundschule hat er in großen Teilen im Homeschooling verbracht, eine zeitlang hat er nur die Grundfächer gehabt und die Aufgaben, die sie zuhause erledigen sollen, haben ihn an vielen Stellen unterfordert. Er befürchtet weniger gelernt zu haben und das gerade jetzt, wo er doch auf die weiterführende Schule kommt, die höhere Ansprüche stellt. „Wir haben weniger Aufgaben gehabt und Themen übersprungen“ erzählt er und gibt zu, Angst zu haben, dass er etwas nicht kann, was am Gymnasium vorausgesetzt wird, was aber in seiner Grundschulzeit wegen Corona nicht behandelt wurde. Seit ein paar Wochen geht er wieder im Wechselunterricht in die Schule. Bevor er die Schule betritt, muss er sich unter Aufsicht der Klassenlehrerin selbst testen. Bis vor kurzem mit einem Stäbchen in der Nase, mittlerweile hat die Schule nach Vorgabe des Schulministeriums den Lolli-Test eingeführt. Er kann mir genau herunterbeten, wie der Ablauf ist, er findet gut, dass getestet wird, sagt er.

Corona hat mir meine Kindheit gestohlen

sagt Leas Bruder, 10 Jahre alt

Mein kleiner Bruder ist erst 10, doch er bekommt schon erstaunlich viel mit. Egal ob das Radio oder der Fernseher läuft, er saugt alle Nachrichten auf. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, wie sich alles durch die Pandemie verändert hat, dass er glaubt, sich erstmal wieder dran gewöhnen zu müssen, wenn alles wieder normal wird. Gegenüber meiner Mutter hat er letztens den Satz geäußert: „Corona hat mir meine Kindheit gestohlen.“ Der Satz klingt hart, überspitzt, trägt aber viel Wahrheit in sich. Mein kleiner Babybruder ist erwachsener geworden. Erwachsener als man in diesem Alter sein wollte. Alle meine Geschwister sind erwachsener geworden.

Ich, Lea, 23, Studentin

Ob ich selbst erwachsener geworden bin, weiß ich nicht… Ich denke eher nicht, aber ich lebe auch schon seit 4 Jahren allein, das ist genug Zeit, um eine gewisse Selbstständigkeit zu entwickeln. Im Gegensatz zu meiner Schwester konnte ich den ersten Lockdown sogar halbwegs genießen, das Onlinesemester war gut organisiert und ich habe an keiner Stelle Wissen eingebüßt, außerdem saß ich mit meinem Freund in seiner frisch bezogenen Wohnung in Berlin und die Zeit war eher aufregend und neu, als beängstigend. Gerade am Anfang haben mich alle Nachrichten wahnsinnig interessiert, als Journalistik-Studentin wohl eine Art Berufskrankheit. Doch wie bei dem älteren meiner Brüder, waren auch für mich die letzten Monate sehr hart. Mein Studium neigt sich dem Ende zu und das Unwissen darüber, wo ich am Ende dieses Jahres stehen werde, machte die Perspektivlosigkeit in Bezug auf Corona in den letzten Monaten umso schwerer. In der dunkleren Jahreszeit hatte ich so meine Schwierigkeiten, die sich jedoch jetzt, mit einem besseren Überblick über die nächsten Schritte in meinem Leben und mehr Sonnenschein, etwas gelegt haben. Auch mir wurden Sachen verwehrt, die noch frischen Freundschaften aus dem Studium sind in großen Teilen im Sand verlaufen und doch habe ich das Gefühl, weniger eingebüßt zu haben als meine Geschwister, weil ihnen vieles verwehrt blieb, was mir vergönnt war. Ich hatte eine aufregende letzte Schulwoche, einen tollen Abiball. Ich hatte einen spannenden Studienstart, konnte alle Vorteile des frisch-ausgezogen-seins genießen. Ich konnte Kind sein.

„Wir alle haben uns brav an die Regeln gehalten, haben alle lange niemanden getroffen“

Alle meine Geschwister sind erwachsener geworden. Das stellt auch meine Mutter fest. Bei meiner Schwester hat sie die anfänglichen schlechten Phasen mitbekommen, erlebt, wie der erste Freund meine Schwester aufgefangen hat und sie die Negativität weitestgehend hinter sich lassen konnte und sieht, wie gefestigt und klar sie nun ist. Mein älterer Bruder hat sie überrascht, sie hätte mit mehr Aufbegehren gerechnet, doch er hat sich erstaunlich brav in sein Schicksal gefügt, alle Regeln akzeptiert und ist seinen Weg gegangen. Wir alle haben uns brav an die Regeln gehalten, haben alle lange niemanden getroffen. Dem Kleinsten wurden wohl die relevantesten Sachen genommen: Corona hat die unbeschwerte Zeit seiner Kindheit verkürzt. Auch bei mir merkt sie, dass mir Corona zu schaffen macht, dass es mir zu schaffen macht, dass mein Master so zerschossen wurde und nicht die tolle Zeit war, die ich mir so gewünscht habe, sagt sie.

Wir vier Geschwister sind an unterschiedlichen Punkten in unserem Leben. Wir vier gehen mit unseren Erfahrungen unterschiedlich um. Doch wir alle vier haben uns durch die Coronapandemie verändert, sind nachdenklicher, erwachsener geworden, haben mental unter den Verlusten gelitten. Man kann das letzte Jahr nicht rückgängig machen, man kann nur seine Erfahrungen reflektieren und nach vorne schauen, die Leichtigkeit wiederfinden, die in den letzten Monaten abhanden gekommen ist. Und ich hoffe, dass wir genau das tun, reflektieren, nach vorne schauen und das Negative in der Vergangenheit zurücklassen, weiter gehen, mit dem Gesicht der Sonne entgegen.

Freiheitsrechte in Gefahr? Verfassungsrechtler:innen bezweifeln die Rechtmäßigkeit der Bundesnotbremse

Ein Gastbeitrag von Lisa Wiese

Zum Start der Bundes-Notbremse sind beim Bundesverfassungsgericht zahlreiche Eilanträge und Verfassungsbeschwerden eingegangen. In Landkreisen, die drei Tage lang eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Fällen je 100.000 Einwohner:innen überschritten haben, gelten seit dem 24. April unter anderem verschärfte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Gerichtlich zu prüfen ist nun, ob durch die bundeseinheitliche Regelung eine Überlastung des Freiheitssystems vorliegt (Anm. Freiheitsrechte also zu sehr eingeschränkt werden) oder der Bund endlich nach langem Ringen in rechtmäßiger Weise seiner Pflicht zum Schutz der Bevölkerung nachkommt. 

Diese heikle Abwägung von Freiheit und Sicherheit ist für die Richter:innen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe nicht neu. Auch die Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung beschäftigte das oberste Verfassungsorgan bereits und stellte sich schon damals als Drahtseilakt heraus. Eine Abwägung von Schutzgütern (Anm. Damit gemeint ist alles, was aufgrund seines ideellen oder materiellen Wertes vor einem Schaden bewahrt werden soll) und Freiheitsrechten hinsichtlich der Corona-Gesetzgebung scheint jedoch eine gänzlich neue und vielschichtige Dimension erreicht zu haben.  

Grundsätzlich sind zunächst einmal alle Grundrechte bis auf Art.1 GG (Menschenwürde) unter bestimmten Voraussetzungen einschränkbar. Damit vorgenommene Grundrechtseinschränkungen aber rechtmäßig sind, brauchen sie eine gesetzliche Grundlage und müssen insgesamt verhältnismäßig sein. Eine gerichtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung umfasst vier Kriterien: Die Grundrechtseinschränkung muss ein legitimes Ziel verfolgen. Zudem muss sie geeignet, erforderlich und angemessen sein. Diese Kriterien werden hier erklärt und diskutiert anhand der streitigsten Eindämmungsmaßnahme der Bundes-Notbremse: der Ausgangsbeschränkungen.

Ausgangssperre

Zahlreiche verwaltungsgerichtliche Eilverfahren zeichneten bisher keine eindeutige Entscheidungslinie hinsichtlich nächtlicher Ausgangssperren, wie sie nun auch im neuen Infektionsschutzgesetz vorgesehen sind. Grund für diese derart heterogene Entscheidungspraxis (stattgebende Beschlüsse siehe Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hier, OberverwaltungsgerichtNiedersachen hier, dagegen ablehnende Beschlüsse zur gleichen Materie siehe Bayerischer Verwaltungsgerichtshof hier oder Verwaltungsgericht VG Hamburg)
sind unterschiedliche Auffassungen zur Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahmen. 

Unstreitig ist, dass Ausgangssperren in die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 II 2 GG) eingreifen, welche die persönliche Bewegungsfreiheit umfasst, also das Recht den gegenwärtigen Aufenthaltsort nach freiem Belieben zu verlassen. Diese Einschränkung könnte allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Zweck (legitimes Ziel) dieser Einschränkungen ist der Gesundheits- und Lebensschutz. Jedoch kann der Zweck nicht auf die Verhinderung jeder einzelnen Erkrankung gerichtet sein, denn das würde die staatliche Gewalt überfordern. Außerdem ließe dies die Eigenverantwortlichkeit der Bürger:innen in Bezug auf ihre gesundheitliche Lebensgestaltung außer Acht. Der Zweck des Lebens- und Gesundheitsschutzes ist deshalb dahingehend zu konkretisieren, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu gewährleisten. Zudem soll eine drohende Überlastung der Krankenhauskapazitäten, insbesondere den Intensivmedizinischen Versorgungskapazitäten, vorgebeugt werden. 

Die nächtliche Ausgangssperre müsste geeignet (in irgendeiner Form förderlich) sein, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu gewährleisten. Äußerst unklar ist dabei zunächst, ob der festgelegte Inzidenzwert ein aussagekräftiger Indikator für die drohende Überlastung des Gesundheitssystems darstellt, oder ob hierfür nicht vielmehr die tatsächlich ernsthaften Erkrankungen maßgeblich sind.
Fraglich ist auch, ob nicht weitere Faktoren aufgegriffen werden müssten (z.b. die jeweilige konkrete Situation in Krankenhäusern oder die Impfquote des jeweiligen Landkreises), um eine verlässliche Auskunft über die zu erwartende Auslastung des Gesundheitssystems zu erlangen. 

Für erforderlich wird eine grundrechtseingreifende Maßnahme dann angesehen, wenn es kein gleich geeignetes milderes Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels gibt.  Gerichtliche Entscheidungen, die allgemeine Ausgangssperren wieder „kassierten“, begründeten diese mit der fehlenden Erforderlichkeit der Maßnahme. Mildere Mittel, wie beispielsweise Kontaktbeschränkungen oder Betretungsverbote für bestimmte öffentliche Plätze, wären gleich geeignet. Darüber hinaus könne eine allgemeine Ausgangsbeschränkung auch nicht besser durchgesetzt werden, als die o.g. milderen Mittel, da ihre Einhaltung durch Polizei und/oder Ordnungsbehörden flächendeckend werden müsste.

Letztes Verhältnismäßigkeitskriterium ist die Angemessenheit. Angemessen ist eine Maßnahme dann, wenn sie nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht. Hierbei werden die Intensität des Grundrechtseingriffs (Nachteil) mit der Bedeutsamkeit des Schutzgutes (erstrebter Vorteil) abgewogen. 

Von der Ausgangsbeschränkung erfasst sind auch Personen, von denen aufgrund bereits erfolgter Impfungen oder Genesung kein signifikantes Infektionsrisiko mehr ausgeht. Eine derartige Streubreite erhöht die Eingriffsintensität und ist mit der Verfolgung des Zwecks schwer bis kaum aufzuwiegen. 

„Was nicht alle haben können, soll niemand haben“ lässt sich doch schwerlich als Ausdruck von Solidarität bezeichnen. 

Lisa Wiese, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität Leipzig

Noch ehe die erste Impfung verabreicht war, entbrannte die Diskussion um eine Differenzierung zwischen geimpften und nicht geimpften Personen. Der Wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung bewertete den erlassenen Maßnahmenkatalog ohne Ausnahmen für Geimpfte äußerst kritisch. In einem Gutachten vertritt er die Auffassung, dass Grundrechtseingriffe für Geimpfte nicht zu rechtfertigen sind. 

Eine Moralisierung der Diskussion à la Spahn und Seehofer mit dem Haupt- und Totschlagargument „Solidarität“ zeichnet ein anderes Ergebnis mit nahezu ideologischer Dimension.
Geimpfte Personen müssten gegenüber nicht geimpften Personen auf Möglichkeiten verzichten, weil auch die letzteren den ersteren gegenüber durch die Einräumung von Priorität bei der Impfung Solidarität gezeigt hätten.
Bei genauem Hinschauen lässt sich die Spahn´sche Solidaritätsthese aber entlarven: die Priorität der vorrangig zu impfenden Personen beruhte keineswegs auf einem Solidarakt, sondern auf einem Dekret des Gesundheitsministers selbst. Diese war und ist schlicht rechtlich zu dulden. Verfassungsrechtler:innen lehnen den Gedanken der allgemeinen Solidarität unter den Nicht-Geimpften schon deshalb ab, weil es keine Verfassungsgüter sind, die sich mit den Grundrechten der Geimpften abwägen lassen. 
Darüber hinaus ist der Satz „was nicht alle haben können, soll niemand haben“ doch schwerlich als Ausdruck von Solidarität zu bezeichnen. Niemand käme ernsthaft auf die Idee ein solches „Prinzip“ in anderen Kontexten anzuwenden, etwa im Organspenderecht oder bei der Verteilung knapper Rettungsmittel. Mit Solidarität und moralisch angereicherter Kategorisierung kann man politisch alles begründen. 

Darf der Staat zwischen geimpften und nicht geimpften Personen differenzieren?

Eine rechtliche Perspektive zeigt, dass plausible und pragmatische, vor allem aber differenzierte Antworten möglich sind. Dabei sind drei Fragen zu unterscheiden: 1. Darf der Staat im Rahmen seiner Tätigkeit zwischen geimpften und nicht geimpften Personen differenzieren? 2. Darf ein privater Dritter eine solche Differenzierung treffen? 3. Darf der Staat einen Privaten verpflichten zwischen geimpften und nicht geimpften Personen zu differenzieren? 

Eine Differenzierung nach dem Impfstatus durch den Staat selbst stellt eine rechtswidrige Ungleichbehandlung (Art. 3 GG) dar, die nach den Verhältnismäßigkeitskriterien nicht zu rechtfertigen wäre. Denn, bevor der Staat den Zugang zu Behörden, Universitäten, Schulen oder Kultureinrichtungen für ungeimpfte Personen sperrt oder beschränkt, hat er zunächst mildere Mittel zu wählen. Zb. die Implementierung geeigneter Hygienekonzepte oder die Anwendung von Schnelltests. Dies wären gleich geeignete und mildere Mittel, die eine Differenzierung nach dem Impfstatus nicht erforderlich machen. 

Anders ist die rechtliche Situation im Privatbereich. Private können im Rahmen der allgemeinen Vertragsfreiheit Verträge schließen, wie und mit wem sie wollen. Restaurantbetreiber oder Sporteinrichtungen können im Rahmen der Privatautonomie entscheiden, ob sie eine Differenzierung nach Impfstatus vornehmen. Etwas anderes gilt nur für Monopolanbieter (wozu in Deutschland faktisch wohl die Lufthansa zu rechnen ist) oder bei Massenveranstaltungen, bei denen Personen grundsätzlich ohne Erfüllung irgendwelcher Kriterien zugelassen werden (Fußballstadien oder Einkaufszentren). In diesen Ausnahmefällen haben auch private Anbieter den Gleichbehandlungsgrundsatz zu berücksichtigen.

Die Konstellation, dass der Staat private Betreiber dazu verpflichtet, nur geimpfte Personen zuzulassen, ist am schwierigsten zu beurteilen. Ein weitgehend diskriminierungsfreier Lösungsansatz wäre, den Zugang nicht ausschließlich an den Impfstatus zu binden. Man könnte stattdessen einen negativen Coronatest fordern und zusätzlich ein modernes Hygienekonzept einführen. Wer (noch) nicht geimpft ist oder sich nicht impfen lassen will, würde in einem solchen Konzept nicht diskriminiert oder einem faktischen Impfzwang ausgesetzt. 

Das Problem möglicher Differenzierung nach Impfstatus ist vielschichtig und muss nachhaltig diskutiert werden. Eine Moralisierung wie etwa der Aufruf zur Solidarität ist dabei aber ebenso untauglich wie der Ruf nach gesetzlichen Ge- oder Verboten. Angesichts der derzeitigen Grundrechtsbeeinträchtigungen und wirtschaftlichen wie psychischen Schäden, die mit der Stilllegung des öffentlichen Lebens verbunden sind, kann der Lockdown für alle auf nicht absehbare Zeit, keine befriedigende Lösung darstellen. 

Am besten alles ohne die Länder?

Die Frage, ob Bund oder Länder für gewisse Gesetzgebungsvorhaben zuständig sind war bisher eher Stoff für Nerd-Diskussionen unter Jurist:innen. Doch in der Coronapandemie hat diese Frage nun auch den politischen Diskurs erreicht. Weil Länder den Vollzug von Maßnahmen bisher mit wenig zufriedenstellenden Ergebnissen umgesetzt haben, wird ihre Zuständigkeit mit der Bundes-Notbremse kassiert, sobald der darin vorgesehene Inzidenzwert erreicht ist.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident bezeichnet dies als Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Er fragt sich, ob Kritikern des bundesstaatlichen Flickenteppichs die historische Bedeutung und demokratietheoretischen Vorzüge und schließlich die verfassungsrechtliche Unverzichtbarkeit des Föderalismus vollumfänglich bewusst ist. Hiergegen lässt sich rechtlich jedoch einwenden, dass der Bund nach dem Grundgesetz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) die Gesetzgebungskompetenz für das Infektionsschutzrecht hat, welches sich auch auf den Schulbereich erstrecken lässt und demnach Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie auch aus verfassungsrechtlicher Sicht vollumfänglich regeln kann. 

Die Grundrechte haben in der Pandemie keinen leichten Stand. Unsichere und äußerst schwierige Prognoseentscheidungen und drohende Gefahren für Leib und Leben zwingen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in eine defensive Position. Die Komplexität und gleichzeitige Dringlichkeit zum Handeln in der derzeitigen Situation erfordert in einem Land mit ausgeprägter Streitkultur nicht weniger, sondern besseres und vor allem tatsachenbasiertes Streiten. Die Pandemiebekämpfung braucht eine vielschichtige Diskussion auf rechtlicher, politischer, gesellschaftlicher und vor allem wissenschaftlicher Ebene.

Vor dem Hintergrund, dass die Judikative grundsätzlich unmittelbar dem Rechtsschutz und nur mittelbar dem Gesundheitsschutz verpflichtet ist, bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht rechtliche Konstrukte möglichst realitätsnah anwenden wird.

Über die Autorin:
Lisa Wiese
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
und Doktorandin am Lehrstuhl für
Europarecht,
Völkerrecht
und Öffentliches Recht
an der Universität Leipzig

Bild: Uni Leipzig